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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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auf dem Papier, das er unterzeichnet hat, als er dich abholen kam –
    Helfer:
Wir wissen, welchen Preis du beim letzten Mal gewillt warst zu bezahlen, um wieder rauszukommen. Deine eigene Schwester.
    Samstag:
Sag uns, wo er ist, dein Onkel Lajb. Gib uns die Namen der Aufwiegler und Umstürzler auf der Liste deines Onkels Lajb, und ich gebe dir die Freiheit zurück.
    *
    |492| Er lag mit dem Kopf am Boden, direkt am Gitter, dort, wo die lange Zellenreihe ihren Anfang nahm, und rundum erklang das Geräusch von Schritten und Stiefelabsätzen, die über Sand schabten und schrammten. Auch zur Nachtzeit führten Samstags Männer neue Freiwillige für die Arbeitsreserve des Ältesten ins Zentralgefängnis.
    Sie wurden nie anders als
Freiwillige
genannt – gleichgültig, wie lange es gedauert hatte, bevor sie der Aufforderung gefolgt waren, oder ob die Sonder gezwungen war, sie sich zu holen.
    Der Mann, der neben ihm lag, sagte, dass die Reserve jetzt auf dreitausend angewachsen sei: alles arbeitsfähige Männer. Er sagte es offenbar mit Befriedigung, geradezu stolz; und fügte hinzu, dass er sich sehr darauf freue, in die Munitionsfabrik nach Częstochowa zu kommen, wohin, dem Gerücht zufolge, nur die
besten
Arbeiter gelangten. Dann beugte er sich zu Adam vor und sagte, wie im Vertrauen, Hitlers Tage seien zwar gezählt, doch würden die Deutschen es nie erlauben, dass das Getto Litzmannstadt befreit werde. Zuerst müssten die Juden es verlassen. Erst dann würden die Russen oder Engländer zu ihrer Rettung kommen.
    Überhaupt schien der Optimismus unter den »Freiwilligen« groß zu sein. Wie Adam bald verstand, war das in hohem Maße Samstags Werk. Seit Samstags Amtsantritt standen im Zentralgefängnis alle Zellentüren offen, die Gefangenen der sogenannten »äußeren« Reserve konnten kommen und gehen, wie sie wollten (einige von ihnen lagen auf provisorischen Betten oder Pritschen auf dem Zellenflur, als wären sie ganz woandershin unterwegs und hätten hier nur rasch ihr Lager aufgeschlagen); und frühmorgens, wenn der Suppenwagen mit munter scheppernden Kesseln und Töpfen angefahren kam, wer ging da wohl wie eine Ausschankmadam in vorderster Reihe, wenn nicht Samstag persönlich? Und er rief in seinem seltsam fremd klingenden Dialekt:
     
    Hier gibt’s Essen für alle, die arbeiten wollen!
    ESSEN FÜR ALLE! ESSEN FÜR ALLE!
     
    Adam merkte, dass er immer tiefer in die Gänge hinuntergeriet, je mehr »Freiwillige« eintrafen und je enger es oben auf der Zellenebene wurde. |493| In diesen unteren Gängen befanden sich die Aussortierten der Reserve, die ein Gebrechen oder eine Arbeitsverletzung hatten, die sie ungern zeigten.
    Das letzte Mal, als er sich in der GRUBE aufgehalten hatte, war es hier unten wärmer gewesen. Obendrein hatte es einen hohen, pfeifenden Ton gegeben, der ihn instinktiv angezogen hatte, obgleich er den Grund dafür nie zu erklären vermochte. Es war, als gäbe es weiter unten ein Loch oder eine Öffnung, die Luft durch eine Luke oder Klappe hereinließ. Obgleich das natürlich unmöglich war. Sollte der Untergrund, auf dem das Getto ruhte, etwa gänzlich ausgehöhlt sein?
    Der seltsame Ton war noch immer vorhanden, selbst wenn er nun breiter, gröber klang – längst nicht mehr so unerträglich scharf und durchdringend. Und genau wie früher schien eine Art akustischer Unterdruck zu herrschen, der den Ton im Kopf wie einen Strudel wirbeln und saugen ließ.
    Weiter unten in der GRUBE sah Adam auch, dass die Gänge nicht aus dem Zellengebäude
hinaus
führten, wie er ehemals vermutet hatte, sondern dass sie in plumper Spiralenform immer tiefer in die Erde vordrangen: so dass er in einer Tiefe von vielleicht fünf oder zehn Metern unter der Stelle, an der er zunächst geweilt hatte, noch immer die gleichen Geräusche von oben zu hören vermochte, die er Minuten oder Tage zuvor vernommen hatte – nur abgeschwächt: das Klappern von Schlüsseln, die sich in sinnlosen Schlössern drehten; Türen, die aufgehakt oder aufgeschoben wurden; das ausgelassene Lachen von Männern der Reserve, die so erleichtert waren, dass sie endlich zu essen bekamen, da im Getto doch sonst niemand etwas erhielt, dass sie vollkommen vergaßen, wie nah sie vor der Deportation standen.
    – Stein auf Stein, in deutlich abgegrenzten Schichten
    (und zwischen und unter all den Schichten aus Stein:
    diese Gänge, die sich immer weiter und immer tiefer hinabwanden) –
    Wann begriff er, dass er eine Schwelle überschritten

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