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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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hatte und sich nicht länger im Reich der Lebenden befand? Vielleicht lag es an der Art, wie die Aussortierten dahockten. Gekrümmt und abgewandt, als hätten sie auch keine Gesichter mehr zu zeigen.
    Der Gesang indes verblieb der gleiche. Ein langer, gedehnter Ton, der |494| hier so tief unter der Erde vor allem an ein Grollen erinnerte, das nicht nur Stirn und Schläfe, sondern auch Kieferhöhle und Schädelbasis erbeben ließ. Und in der Latrinenrinne, die seitlich des Höhlengangs verlief, strömte und rann es unentwegt weiter, nun mit einem Zusatz von Wasser, das im Gang aus Wänden und Decke sickerte und selbst aus dem unebenen Steinboden unter ihm aufzusteigen schien. An manchen Tunnelstrecken musste er durch tiefe Lachen trüben, stinkenden Abwassers waten.
    Jetzt aber konnte er vorwärtsgehen, ohne den Nacken zu beugen, und als er den Blick hob, war ihm, als wäre die Finsternis im Höhlenschacht poröser, zumindest aber durchsichtiger geworden. Vor ihm breitete sich eine dunkle Landschaft aus. Die Decke des Gangs wurde zum Steinhimmel, und die Latrinenrinne mündete in das, was in der Feuchtigkeit und Nässe zum unterirdischen Meer angeschwollen und weit geworden war, mit langen öligen Wellen, die zu den gewundenen Höhlenwänden hinaufschwappten.
    Die Toten umgaben ihn nun von allen Seiten –
    Etliche von ihnen hatten ihre Koffer und Matratzenbündel bei sich, als könnten sie sich nicht einmal hier von ihren Habseligkeiten trennen. Die meisten indes saßen einfach nur da, allein oder paarweise, die Arme vom Körper weggestreckt, als wären selbst die eigenen Glieder zu fremden Gebilden geworden.
    Natürlich war auch Lida unter ihnen. Sie saß auf einem der Felsvorsprünge, bekleidet mit dem hellen Baumwollfähnchen, das er ihr allmorgendlich über den Kopf gezogen hatte, und auf dem Rücken die Engelsflügel, die sie sich stets erträumt hatte. Und neben ihr saß Werner Samstag, einen Fuß in der Latrinenrinne und vor den Augen eine schwarze Sonnenbrille, wie um sich gegen das gewaltige Licht zu schützen, das hier unten herrschte.
    Samstag hätte nichts zu sagen brauchen. Die Frage war, ob er sich jemals besser verständlich machte als in diesem Augenblick.
Ein Vater
, deklamierte er, während er seinen Arm mit theatralischer Geste um Lidas schmale Schultern legte,
lässt seine eigenen Kinder nie im Stich.
    Doch nicht einmal Werner Samstag konnte Adam hindern, Lida ein letztes Mal zu berühren. Er fasste sie bei den Händen, weit vorn an den |495| Fingerspitzen, und watete unter dem toten weißen Licht in die braune Brühe hinaus. Und ihr an den Armen hängender Körper trieb nach oben, als hätte er plötzlich kein Gewicht, und das ärmellose Kleid schwoll zu einem Ballon oder einem strahlendweißen Segel; nur einen kurzen Moment, bevor der Stoff das dunkle Abwasser aufsog und seltsame Unterwasserströmungen den Körper niederzogen. Einen verschwindend kleinen Augenblick hatte sie wahrhaft dort oben gelegen, war getrieben, und über ihr Gesicht war ein äußerst flüchtiges Lächeln gezogen. Fast wie damals, wenn er mit ihr in der Schubkarre umherfuhr: ein Lächeln, von dem Glück herrührend, sich frei bewegen zu können, ohne unablässig zu fallen.
    Und da löst er endlich seinen Griff – und lässt sie hinausgleiten auf das offene Meer, das keins ist.

 
    |496| Den Verrat trägst du stets wie ein Messer dicht am Herzen.
    Als Adam Rzepin nach drei Wochen von der Reserve zurückkehrte, weigerte sich Olszer zunächst, ihn aufs Neue registrieren zu lassen.
Wir können keine beschädigten Arbeiter gebrauchen, ich begreife nicht, warum man uns ständig diese beschädigten Arbeiter herschickt!
    Verwaltungsleiter Olszer war früher einmal Judenältester in Wieluń gewesen; von dieser Zeit her (sagte er) wisse er, wie man mit Menschen umgehe. Der Leiter der deutschen Gettowachmannschaft in Radogoszcz, Oberwachtmeister Dietrich Sonnenfarb, glaubte ebenfalls zu wissen, wie man mit Menschen umgehe. Durch das Fenster seines blauen Prachthauses musste er Olszers und Rzepins Verhandlungen lange beobachtet haben, denn als Adam dann hinkend zu seiner Arbeit in der Sandgrube unter dem Hangar zurückkehrte, heftete er sich an dessen Fersen. Bewegte sich im parodierenden Tandemgang dicht hinter ihm und zog sein Bein nach, genau wie Adam es tat – in steifem, rollendem Hüftgang, unmöglich zu unterscheiden von dem im Getto so typischen Hungergang.
    Die deutschen Wachtposten lachten – wie es von ihnen erwartet

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