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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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auch geschehen. Was glaubte er eigentlich, wer er war? Der Herr der Geschichte? Nicht einmal ein Deutscher konnte wohl so irrwitzig sein, sich einzubilden, er herrsche über alles und jedes, nur weil er allein auf der ganzen Welt war.

 
    |621| Wieder fällt Schnee, und nun bleibt der Schnee in seiner Dunkelheit liegen.
    Und die Dunkelheit bleibt und vertieft sich auch um ihn.
    Er ist im Herzen dieses Winters, ist in ihm eingebettet, wie ein Stein im Bauch eines großen schlafenden Tieres.
    Die Kälte dauert an; doch erstaunlicherweise isoliert der Schnee auch.
    Im Grünen Haus ist es nicht mehr genauso feucht und kalt wie zuvor.
    Er bricht den Fußboden in der Eingangshalle auf und zersägt die Dielen zu Brennholz. Ein altes, verrostetes Eisengitter, das er gefunden hat, benutzt er, um die Asche des Feuers gleichmäßig zu verteilen, damit sich die Wärme länger hält.
    Langsam, unendlich langsam bevölkert sich das Grüne Haus von Neuem.
    Eines Nachts meint er, Klaviermusik aus dem Rosa Zimmer zu vernehmen.
    Doch der Musik ist die Resonanzhülle genommen. Allein das trockene mechanische Klopfen ist zu hören, als die hölzernen Hämmerchen im gewaltigen Bauch des Instruments auf die Stahlsaiten treffen. Eine
innere
Musik. Und die Schläge fallen heftiger, kommen rascher. Zum Schluss wird das Geräusch ohrenbetäubend: eine Kakophonie kalten Hämmerns, das sich als Zittern durch seinen eigenen Körper fortsetzt.
    Er sieht ein, dass er krank ist.
    Das Fieber durchschwemmt ihn in Wellen, abwechselnd heiß und kalt. Er spürt eine gefährliche Mattigkeit im Körper, von der er instinktiv weiß, dass er ihr nicht nachgeben darf. Um diese Mattigkeit daran zu hindern, dass sie die Oberhand gewinnt, beginnt er zu schreien. Er schreit rundheraus, mit der vollen Kraft seiner Lungen. Er schreit Feldmans |622| Namen. Er schreit den Namen seines Vaters. Er schreit Lidas Namen. Als ihm keine Namen mehr einfallen, schreit er Namen von Orten, die er besucht hat, von Straßen im Getto.
    Dringen die Schreie wirklich aus ihm heraus, hallen sie durch die Zimmer, oder verschwinden sie nur fort von ihm als schwaches, flüsterndes Ausatmen? Er wagt seinem Gehör nicht länger zu trauen. Unmöglich zu sagen, ob das, was er selbst hört, auch im Raum außerhalb gehört werden kann.
    Am Ende lassen ihn auch die Stimmen im Stich, und er erliegt der Mattigkeit.
     
    Im Fieber kriecht er wie ein Kleinkind auf dem Boden umher.
    Auch andere Kinder kriechen rundum auf Händen und Füßen.
    Das Zimmer ist voller Kinder. Es ist, wie es sein soll.
    Auch Lida ist ein Kind. Ein riesiger Kopf mit einem warmen, nassen, sabbernden Mund. Wie stets ist sie in ein schmutziges Laken gehüllt, mit engen Öffnungen für Arme und Beine, damit sie nicht in der Lage ist, sich mit ihrem eigenen Kot zu beschmieren.
    Und tagtäglich riss die Mutter ihr das Laken vom Leib, wusch und trocknete es und zog es ihr wieder über den Kopf.
    Lida aber ist jetzt sauber. Sie schleppt ihre langen Glieder hinter sich her, als wären sie Teile eines engen, sperrigen Kokons, aus dem der fertige Körper in Kürze schlüpfen wird.
    Und sie lächelt mit ihrem nassen Mund. Ein blankes, offenes, vertrauensvolles Lächeln.
    Ich bin nicht tot, sagt sie.

 
    |623| Seit mehreren Tagen hat er das Geräusch sporadischer Schusswechsel gehört, ohne zu begreifen, was ihm da an die Ohren dringt. Nicht die massiven Geräuschteppiche der sie überfliegenden alliierten Kampfflugzeuge, nicht das Pfeifen und die gewaltsamen Explosionen der einschlagenden Bomben. Nicht die Rückstöße der Granatwerfer – auch nicht das intensive Geknatter der Schnellfeuerwaffen.
    Nein, was er da vernimmt, ist ein
mechanisches
Schießen.
    Ein hastiges, sporadisches Schrammen an dem, was nun sein äußerer Himmel ist, jener Himmel, den er bei jedem Aufwachen wie einen Helm um Kopf und Schultern trägt.
    Grau wie Emaille steht der Himmel über den niedrigen Mauern und verstümmelten Bäumen des Begräbnisplatzes. Er kann nicht glauben, dass es dieselbe Landschaft ist, dieselbe Landschaft, die Tag für Tag wiederkehrt, und sein erster Impuls ist, sich erneut hinzulegen: den Hunger herauszufordern, indem er zumindest zu schlafen versucht. Das Schießen wird am Ende zu einem ebenso gewohnten Laut wie das Prasseln des Regens oder das Geräusch von Wasser, das nach einer Nacht mit schwerem, nun tauendem Schnee an den Hausgiebeln herabtropft und rieselt.
    Erst als dem Schießen Stimmen folgen, wird er richtig wach.
    Die

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