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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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umzuschauen, um sicherzugehen, dass kein anderer hier draußen in der Finsternis, unter dem Himmelshelm, weilt, der ihn sehen und ihm dorthin folgen kann, wohin er geht.
    Er kommt an Praszkiers Werkstatt vorüber, biegt in die Okopowa ein und ist wieder an der Ecke der Zagajnikowa. Am Straßenrand und hinter den Gartenzäunen liegen Wülste von Schnee, der geschmolzen war und wieder gefroren ist. Doch der Neuschnee ist unberührt. Soweit er sehen kann, nirgendwo Reste von Fußabdrücken. Falls er überhaupt noch etwas zu sehen vermag. Sein Blick ist trüb, verschwimmt, sobald er versucht, ihn auf einen Punkt zu richten.
    Er ist nun derart schwach, dass er sich an alles lehnen muss, was sich auf seinem Weg befindet.
    Gartentor, Hauswand; dann die zum Korridor führende Tür, und von dort (gottlob!) den dunklen Flur in den schützenden Keller hinunter.
     
    Alles, was nötig ist, hat er bereits zusammengetragen. Teerpappe, die er unten in den Ofen legt, damit die Feuchtigkeit das Holz nicht verdirbt. Er schiebt ein paar noch belaubte Eichenzweige hinein und baut einen kleinen Turm aus den Bretterstückchen, die er gesammelt hat. Das Feuer lodert fast sofort auf, er lässt es im Durchzug brennen und schließt dann sorgfältig die Ofentür, damit sich die Wärme im Raum ausbreitet und nicht einfach verfliegt.
    Bestimmt ist der Rauch mehrere Kilometer weit zu riechen.
    Doch es kümmert ihn nicht. Das Feuer im Ofen strahlt, zieht ruhig und mächtig, in Feldmans dickem Mantel beginnt er schier zu schwitzen. Großflächig treibt es den Schweiß aus seinem Leib, selbst die steifgefrorene Gesichtshaut schwitzt. Es läuft und tropft an Ohren, Lippen und Augen.
    Und in der ebenso unerwarteten wie verführerischen Behaglichkeit, die er um sich geschaffen hat, fühlt er sich fast wie ein Teufel tief in seiner Höhle. Vollkommen hassenswert in seiner Unverantwortlichkeit.
    Nun können sie kommen.

 
    |619| Doch niemand kommt.
    Am Ende werden die Flammen hinter dem Ofengitter spärlicher. Das Feuer erlischt; mit überraschender Geschwindigkeit ergreift die Kälte aufs Neue von dem Raum Besitz.
    Wie er halbwach und bibbernd daliegt, die Aufmerksamkeit auf eventuelle Geräusche gerichtet, tritt er jetzt erneut zu dem deutschen Soldaten hin, den er getötet hat.
     
    Vom Tod hat er viel gesehen, doch es ist das erste Mal, dass er einen Menschen getötet hat.
    Obendrein einen Deutschen. Mancher würde gewiss sagen, dem Schwein sei recht geschehen.
    Für ihn aber ist die Handlung noch immer zu groß, als dass er sie mit Worten oder Gedanken voll erfasste.
    Zunächst denkt er: Er hat getötet. Deshalb werden sie ihm auf den Fersen sein. Sie werden nicht nachlassen, bevor sie Rache genommen haben. Sie werden ihm die Haut abziehen, so wie sie es bei diesem Juden Pinkas, oder wie er hieß, getan haben, der ein Juweliergeschäft in der Piotrowska besaß, bevor das Getto errichtet wurde, und der, als der Deutsche kam, versucht hat, all seine Habe an verschiedenen Stellen der Wohnung und bei Freunden und Bekannten zu verstecken. Als sich Pinkas weigerte, ihnen zu sagen, wo er das Gold versteckt hielt, schlugen sie ihn und rissen ihm all seine Kleider vom Leib, schlangen ihm dann ein Seil unter den Armen hindurch, das sie an einem Motorrad mit Beiwagen festbanden, und schleppten Pinkas’ nackten Körper die gesamte Piotrowska hoch und runter, vom Grand Hotel bis zum Plac Wolności, bis die Haut abgerissen war und von dem blutigen Rest auch Arme und Beine. Am Ende waren nur noch Kopf und Rumpf vorhanden.
    |620| So würden sie es auch mit ihm tun. Stellt er sich vor.
    Als sie aber dennoch nicht kamen, wurde er unsicher.
    Vielleicht war das, was geschehen war, nicht wirklich geschehen. Vielleicht hatte er es nur geträumt, genau wie er zuweilen dachte oder träumte, dass Lida bei ihm war.
    Sie war da, obgleich sie eigentlich nicht da war.
    Überdies war der Soldat, den er getötet hatte, vielleicht nicht richtig tot, da er ein Deutscher war und Deutsche bekanntlich unsterblich waren. Er sah, wie die Blutfontäne, die aus der abgerissenen Halsschlagader spritzte, in den Körper zurückfloss. Sah, wie der Soldat aufstand, seine zuvor vorhandene Beherrschung zurückerlangte; aufs Neue nach seinem Gewehr griff und sich entrüstet zu ihm umwandte.
    Sterben?
Wenn hier jemand sterben sollte, dann ja wohl er –
der Jude
.
    Dass der Jude sterben sollte, war schließlich bestimmt vom Anbeginn der Zeiten, und wie es einst bestimmt war, musste es am Ende

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