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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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beide Säcke quer über den schneebedeckten Hof zurück und presst sich mit dem Rücken an die Wand auf der anderen Seite.
    Ein deutscher Soldat ist im Haus. Das hört man an den festen, derben, wenn auch leicht zögernden Stiefeltritten. Der metallisch rasselnde Laut eines Gewehrs, das aus seinem Riemen gelöst wird und dann langsam an den Knöpfen eines Uniformmantels entlanggleitet. Wenig später hört er auch die langen zaudernden Atemzüge des Soldaten. Jetzt sieht auch der Deutsche, was Adam seit langem bemerkt hat: das Gewirr der sich auf dem Hof kreuzenden Fußabdrücke und darüber die Schleifspur der beiden Säcke. Der Soldat macht ein paar Schritte auf den Hof hinaus; es ist, als müsste er näher herantreten, um überhaupt zu verstehen, was er da sieht. Im selben Augenblick hat Adam zwei Schritte auf ihn zu gemacht und die Pistole mit beiden Händen erhoben.
    |614| Der junge Soldat dreht sich um, sein Gesicht leer und fassungslos.
Ein Jude mit einer Pistole.
    Es ist so unbegreiflich, dass er nicht einmal versteht, wie er reagieren soll.
    Adam macht hastig einen weiteren Schritt nach vorn, presst dem Mann die Pistolenmündung direkt ans Gesicht, während er ihm bedeutet, das Gewehr herzugeben.
    Unbegreiflicherweise gehorcht der Mann.
    Adam fasst mit der einen Hand nach dem Gewehrriemen, es gelingt ihm, den Kolben bis zum Knie zu heben und den langen Gewehrlauf auszurichten. Bevor der Mann begreift, was geschieht, hat Adam den Finger um den Abzug gelegt und abgedrückt.
    Der Schuss muss die Seite des Halses getroffen haben, denn der Körper wird eine halbe Drehung herumgerissen, und Blut spritzt fontänenartig vom Kopf weg. Der Deutsche landet rücklings im Schnee, die Arme wie zur Umarmung ausgebreitet. Adam ist aufs Neue zur Stelle, presst die Gewehrmündung an den Kopf des Mannes, doch das ist nicht mehr nötig. Das Blut sprudelt aus der Halswunde, als hätte man einen Hahn aufgedreht. Der Mann rührt sich nicht, hat den Mund fischgleich geöffnet, so als suchte er nach Worten. Doch er sagt nichts, oder es ist nicht zu hören, denn noch immer tönt und hallt das Echo des Schusses um sie herum, und Adam weiß, in der Stille, die jetzt herrscht, muss der Schuss überall im Getto zu hören gewesen sein.
    Er streift sich das Gewehr des Soldaten über die Schulter und schleppt die beiden Säcke mit Holz aus dem Innenhof ins Lagergebäude und von dort auf den Hofplatz. Dann die Łagiewnicka hinunter, wo er mit seinen Säcken nun mitten auf der Straße geht, eine deutliche Zielscheibe. Jeder, der ihn sieht, kann ihn ins Visier nehmen und abschießen.
    Doch niemand sieht ihn – niemand schießt.
    Der Schnee ist in Regen übergegangen, und im Regen verdichtet sich ein schwacher Dunst, nimmt die Farbe der Dämmerung an, die sich um ihn ausbreitet. Das Letzte, was er sieht, bevor er von der Łagiewnicka abbiegt, ist die große Gettouhr, die stets hier gestanden hat.
Gettozeit
: eine ganz besondere Zeit, die sich von allen anderen Zeiten der Welt unterschied. Nun stehen die Zeiger auf dem bleichen Zifferblatt auf 4.40 Uhr.
    |615| Zwanzig vor fünf. Aus Schneefall wird Regen. Ein Jude hat soeben einen Deutschen getötet.
     
    Ein paar Häuserblöcke weiter:
    Um abzukürzen, ist er in die Spacerowa eingebogen, dann auf der Młynarska weitergegangen; hat sich möglichst weit rechts gehalten, auf der Straßenseite, die von Bäumen beschattet ist. Da wird ihm klar, das Dümmste, was er jetzt tun kann, ist, ins Grüne Haus zurückzukehren. Dort werden die Deutschen natürlich zuallererst suchen. Wenn sie obendrein die Mitglieder des Räumkommandos befragen, kann Feldman sehr wohl gezwungen sein, das Grüne Haus und auch die Gärtnerei zu nennen.
    Auf der anderen Seite der Straße: eine lange Reihe einfacher Mietshäuser. Vom Schneefall ist nur noch leichter Regen zurückgeblieben. Seine Spuren werden in weniger als einer Stunde ausgelöscht sein. Er betritt einen der dunklen Aufgänge und schleppt die beiden Säcke hinter sich her. Steigt so weit hinauf, wie er nur kann. Zweiter Stock, dritter.
    Eine Wohnungstür: Er schiebt sie mit der Schulter auf.
    Zwei Zimmer, lose Tapetenbahnen hängen von den feuchtfleckigen Wänden; ein Fenster zur Straße: ein verrußter Herd.
    Er lässt die Säcke fallen. Setzt sich auf einen schwankenden Bettrost. Spürt Stiche in der Leiste. Merkt, dass in der Lunge kein Platz für die Atemzüge ist, die er hineinzupressen versucht.
    Er legt sich in dem eiskalten Bett auf den Rücken,

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