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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Stimmen sind mal nahe, mal weit entfernt, und wieder ist es schwer zu entscheiden, ob sie von außen kommen oder aus ihm selbst.
    Sicherheitshalber schiebt er den Gewehrriemen über die Schulter und geht hinaus.
    Nach so langer Zeit der Reglosigkeit fällt es schwer, sich ungehindert zu bewegen. Es ist, als hätte man ihm bleierne Gewichte an Arme und Beine gehängt. Den Kopf zieht es nach unten, oder der will sich jedenfalls ständig nach unten beugen. Wer auch immer ihn jetzt zu Gesicht bekommt, wird sagen, er sei nur noch ein Schatten seiner selbst.
    |624| Und vielleicht ist dem ja so. Aber er hat sich selbst überlebt.
    Wider alles Erwarten hat er überlebt.
     
    Blendend weißes Winterlicht auf Äckern und Feldern, die nach wie vor mit Schnee bedeckt sind.
    Doch nicht überall: Hier und da ist die dunkle Erde im Begriff, sich durchzubrennen. Die Welt ist weiß und schwarz, mit Schneesträngen, die die schwarzen Felder wie Spiegelungen des gewaltigen Himmelsweiß überziehen.
    Vor dem Weißen sieht er Menschen in Bewegung. Sie folgen demselben Weg, den die Marschkolonnen einst zum Bahnhof Radogoszcz nahmen. Doch diejenigen, die jetzt hier gehen, bewegen sich freier; als wären sie nicht bereit, sich von Wachkommandos zusammenhalten zu lassen. Ab und an bleibt einer der Marschierenden stehen, schreit etwas oder wedelt mit den Armen über dem Kopf. Wenn das geschieht, hält die gesamte Kolonne inne, und auch andere Männer beginnen zu rufen und zu schreien und mit den Armen zu wedeln. Unmöglich zu verstehen, was sie sagen. Die Stimmen verschmelzen zu einer akustischen Wand, ebenso scharf und abweisend wie die Lichtwand, der Himmel.
    Ist er es, dem sie signalisieren? Ist er der beabsichtigte Empfänger all dieses Rufens und Wedelns? Doch wie können sie ihn überhaupt sehen, wenn er kaum Einzelne zu unterscheiden vermag? Der Abstand dürfte wahrhaft zu groß sein.
    Dann lösen sich ein paar Gestalten aus dem Pulk und kommen in seine Richtung gerannt.
    Drei Personen sind es. An der Spitze läuft Józef Feldman. Er erkennt die schnellen, schaukelnden, gleichsam ständig vorwärtsstrebenden Schritte deutlich wieder. Sein in den Mantel gezogener Kopf ist vollkommen rot – zugleich erregt und angsterfüllt –, so als falle es ihm schwer, seine zersplitterten Gesichtszüge zu einem einheitlichen Ausdruck zusammenzufügen.
    Feldman schreit etwas, und aus dem Schrei lösen sich einzelne Worte.
    Er bringt sie zusammen zu:
    Die Russen … sind … da …
    Dann, so als wären Feldmans Worte eine versteckte Regieanweisung, |625| biegen die ersten russischen Militärfahrzeuge in die Zagajnikowa ein. Richtige Panzer sind es: KW-Panzer mit Raupenketten, lehmbespritzt bis hoch zu den Geschützrohren, hinten die rote Fahne mit Hammer und Sichel, festgebunden über den dröhnenden, abgasqualmenden Motoren. Im Turm sitzen zwei oder drei Mann. Einige von ihnen singen. Jedenfalls meint er, so etwas wie das Steigen und Fallen von Gesang zu vernehmen.
    Mitten in diesem Gesang und dem starken Motorenlärm versucht Feldman noch weiteres zu rufen, doch der Gesang übertönt ihn. Adam kann sich nicht länger beherrschen, er rennt zur Zagajnikowa hinunter, auf der ein Konvoi nach dem anderen angefahren kommt; Panzer und Versorgungsfahrzeuge mit Funkausstattung.
    Auf halbem Weg zu den russischen Panzerverbänden dreht er sich um und winkt.
    Auch Feldman winkt. Mit langen, kräftigen Armbewegungen.
    Komm her … her …
, klingt das, was er sagt.
    Doch Adam ignoriert ihn. Diesen wunderbaren Befreiungsaugenblick muss er mit seinem ganzen Körper erleben. Sonst wird er nie wirklich.
    Und jetzt sieht auch er es. Am hinteren Ende der Zagajnikowa sind Stacheldraht und Zäune weggerissen, das Schilderhäuschen, in dem der deutsche Gettowachtposten, das Schnellfeuergewehr vor dem Bauch, dastand, liegt umgestoßen am Boden. Jenseits der Grenze ist die Landschaft dieselbe wie hier. Dasselbe schräg fallende Sonnenlicht, dieselben schmutzigen Flächen schmelzenden Schnees. Er kann sich nicht länger zügeln. Rennt vorbei am heruntergerissenen Stacheldrahtverhau direkt auf den freien Acker hinaus und beginnt zu tanzen, die Arme in die Luft gestreckt – jubelnd – hinauf zum grenzenlosen weißen Himmel.
    Da fällt der erste Schuss. Gleich darauf fällt ein zweiter.
    Er kann nicht begreifen, warum ihm die Beine nicht länger gehorchen. Voller Panik begreift er, dass sie auf
ihn
schießen.
    Woher kommen die Schüsse? Wer schießt da?
    Er dreht sich um,

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