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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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versucht, sich zum ruhigeren Atmen zu zwingen.
    Quer über der Decke ein kompliziertes Rissmuster im Putz, den die Feuchtigkeit gelockert hat.
     
    Somit hat er also Holz – zwei Säcke voll. Er könnte sogar heizen, wenn er etwas zum Anzünden hätte und wenn sie ihn, wenn er das täte, nicht sofort erwischen würden.
    Genau wie die Pistole, von dem Gewehr ganz zu schweigen, ist nun auch das Holz gänzlich unbrauchbar.

 
    |616| Drei Tage bleibt er in dem Zimmer in der Młynarska. In dieser Zeit geht der Regen wiederholt in Schnee über, und am Morgen des dritten Tages sinken die Temperaturen rapide. Lange bevor es hell wird, wacht er vor Kälte auf. Unter Feldmans altem Schaffellmantel umschließt ihn die Kälte wie ein Ring abweisenden Metalls. In dem eisernen Ring vermag er sich kaum zu bewegen. Er kann die Haut im Gesicht nicht spüren, als er sie berührt. Auch in Fingern und Zehen fehlt ihm jegliches Gefühl. Beißende Kälte hat er schon früher erlebt – doch nie eine dieser Art. Als er sich mühsam in halbsitzende Stellung hochklammert, sieht er, dass die Innenseite des Fensters von der Feuchtigkeit mit einem starren Eisblumenmuster bedeckt ist. Allenthalben dampft es vor Frost. Nicht nur aus seinem Mund beim Atemholen, auch von Decke, Boden und Wänden. Widerwillig verlässt er das Bett, um nach etwas Essbarem zu suchen. In einer der Wohnungen hat der durch das Fenster hereingewehte Schnee einen halbmeterhohen Damm zwischen dem Bett, das in der Ecke steht, und dem rußigen Herd errichtet. Das auf- und zuschlagende Fenster kreischt in den Angeln, die Luft ist erfüllt von diesem sinnlosen Klappern, Quietschen und Knirschen – Laute ohne jeden menschlichen Sinn.
    Er weiß mit absoluter Sicherheit, wenn er auch nur noch eine Minute hierbleibt, wird er sterben. Da hat er bereits alle Wohnungen des Hauses durchsucht, ohne etwas an Lebensmitteln zu finden. Er weiß, dass er nachdenken muss:
    Im Grünen Haus hat er das wenige gebunkert, das er sich hat absparen können. Trockene Brotreste; wenige Deziliter Mais- und Roggenmehl, die er vom Boden alter Aufbewahrungsbehälter zusammengekratzt hat; ein paar steifgefrorene Rote Beete und Steckrüben, auf den verlassenen Gartenparzellen aus der Erde gegraben. Äpfel: faulig, dort wo sie am Boden gelegen haben, doch oben noch vollkommen essbar.
    |617| Mit dem Proviant würde er zumindest ein paar weitere Wochen durchstehen. Doch wenn die Kälte anhält, muss er heizen. Spielt es da eine Rolle, ob er hier Feuer macht oder im Holzofen des Grünen Hauses? Wenn die Deutschen in der Nähe sind, werden sie den Geruch des Holzrauchs riechen, wo auch immer er sich befindet. Dann wäre es schon besser, wenn er ins Grüne Haus zurückkehrt. Ist er erst einmal dort, hat er größere Chancen, sich davonzustehlen und zu verstecken, falls sie wieder auftauchen.
    Und was lässt ihn, genau genommen, eigentlich glauben, dass sie ausgerechnet nach ihm suchen? Oder dass sie überhaupt Zeit zum Suchen haben? Oder Grund? Vielleicht haben sie den Schuss gehört, aber nicht feststellen können, woher er kam. Die Leiche liegt vielleicht noch immer da – ungesehen –, in dem gefrorenen Matschwasser auf dem engen Innenhof des Kohlen- und Brikettlagers.
    Nicht sehr wahrscheinlich. Doch muss er zugeben, dass es durchaus möglich ist.
     
    Als die Dämmerung hereingebrochen ist, sucht er deshalb seine wenige Habe zusammen, streift das Gewehr des deutschen Soldaten über die Schulter, greift nach den beiden Säcken mit dem Holz und schleppt sie nach draußen.
    Die Kälte hält noch immer an. Er geht über knirschend brechendes Eis. Der Wind presst ihm eine Maske aus beißender Kälte gegen Stirn und Wangen.
    Binnen kurzem sind seine Finger, mit denen er die Säcke hält, taub geworden.
    Vor Hunger ist er so matt, dass ihn die Beine kaum tragen. Der Wille vorwärtszugehen ist da, doch kämpft er in leerem Raum.
    Auch hinsetzen kann er sich nicht.
    Er denkt an das, was sein Vater oft erzählt hat, dass es im Getto früher einmal so kalt war, dass den Leuten selbst der Speichel im Mund gefror. Sollten sie ihn hier etwa genauso finden, wie er Samstag gefunden hat? Auf dem Heimweg zu Boden gestürzt mit seinen lächerlichen Holzsäcken? Diebesgut obendrein.
    Also bewegt er sich dennoch vorwärts. Der Nachthimmel ist wie ein |618| Helm, er trägt ihn tief in die Stirn gedrückt. Der Blick darunter öffnet nur einen schmalen Tunnel. In dem schleppt er sich vorwärts, ohne stehen zu bleiben oder sich

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