Die Elenden von Lódz
die einem Fliehenden freien Durchgang von einem Gettoteil zum anderen gewähren. Doch diese inneren Wege kennen nur Leute, die hier schon lange vor der Abriegelung wohnten. Lange bevor sich hier überhaupt ein Getto befand.
|129| Die Frau mit dem Kopftuch und der Handtasche im Wohnkollektiv hieß Irena, doch keiner hatte sie jemals anders als Maman genannt, nicht französisch ausgesprochen, sondern mit ein und derselben Betonung auf beiden Silben des Wortes.
Ma-mann! Ma-mann!
Über die ganze Kindheit von Věra Schulz hatte dieser Ruf durchs Treppenhaus gehallt, dessen hohes Steingewölbe das Rattern vorbeifahrender Straßenbahnen noch verstärkte, und durch all die leeren Zimmer der großen Wohnung im Prager Vinohrady, die um diese nachmittägliche Stunde nur vom warmen Sonnenlicht und dem Geräusch langsam tickender, klickender Uhrwerke erfüllt war. Nachdem Maman den ganzen Morgen am Flügel gesessen und geübt hatte, verbrachte sie die Nachmittage in einem Zustand ewigen Verschmachtens. Sie klagte, sie bekäme Migräne von der Hitze, und schmierte sich mit kostspieligen Cremes ein, damit die Haut nicht austrocknete. Ausgestreckt auf dem breiten Bett liegend, erfreute sie ihre Kinder, indem sie sich bunte Bänder ins Haar knüpfte. Maman hatte eine üppig lockige, fast krause Haarpracht, die sie mit etwas Anstrengung wirken lassen konnte, wie sie gerade wollte. Maman betrat ihre Garderobe und kam im Tennisrock und mit Mary-Pickford-Hut zurück, oder sie trug wie die Präsidentenfrau Benešová ein enganliegendes Kostüm »englischen Schnitts« und einen Hut, der an eine Uniformmütze erinnerte.
Dass die Mutter fortwährend verschwand und als eine andere wiederkehrte, wenn auch nur für ihre Piano-Soirees verkleidet, hatte in Věra schon früh die Angst geweckt, dass Maman eines Tages gänzlich verschwinden könnte. Wenn ihr euch nur ordentlich um mich kümmert, werde ich nirgendwohin verschwinden, scherzte Maman zuweilen, doch keins der Kinder – außer Věra gab es noch zwei Brüder: Martin und Josel – glaubte ihr das. Solange sie ihre Mutter kannten, war |130| sie auf die eine oder andere Weise stets auf dem Weg von ihnen fort gewesen.
Arnošt Schulz liebte seine Frau auf eher pragmatische Weise – wie man ein begehrenswertes Schmuckstück liebt und pflegt. Ihm zufolge hatte Maman keine guten oder schlechten Tage, sie existierte als verschiedene
personnages
(das tat man als Künstler), und die Familie wurde ermahnt, sich mit jeder dieser Persönlichkeiten gutzustellen:
Bitte Kinder, lasst Maman jetzt ein Weilchen in Ruhe
, konnte er sagen, sobald Věra oder ihre Brüder die Stimme am Esstisch erhoben oder zu laut in ihren Zimmern spielten.
Nach zwei Wochen im Wohnkollektiv war von Mamans
personnages
nur noch eine einzige übriggeblieben: eine ausgemergelte, hohläugige Frau, die zusammengekrümmt unter einem Schwall lockiger Haare hockte und vor Schreck zusammenzuckte, sobald sie jemand ansprach. Die
abscheuliche
Suppe aß sie nur, wenn man sie mit dem Löffel fütterte; oder wie Věra es tat: ein paar trockene Brotstücke aufweichte und sie ihr in den Mund stopfte, sobald ihre Aufmerksamkeit abgelenkt war.
Wie anders verhielt es sich da doch mit ihrem energischen Gatten!
Schon vom ersten Moment an hatte sich Doktor Arnošt Schulz zum Sprachrohr des Prager Wohnkollektivs gemacht. Er hatte eine Wachmannschaft aufstellen lassen, um dem ungenierten Diebstahl durch die Ortsansässigen zu begegnen, darüber hinaus hatte er Briefe und Eingaben an das Sekretariat des Ältesten verfasst, in denen er über ungeheizte Räume, das Fehlen von fließendem Wasser und die Latrinenleerung klagte,
die meistenteils nur einer Farce glich.
Letzteres schrieb er in seiner Eigenschaft als neuangestellter Allgemeinarzt am Krankenhaus Nr. 1 in der Łagiewnicka, wo er, wie er selbst es darstellte,
Tag und Nacht damit beschäftigt war, das Leben von Menschen zu retten, die aufgrund der unzulänglichen Nahrungszufuhr im Getto jedoch keinerlei Voraussetzung zum Überleben hatten.
Nach dem Absenden seines Schreibens geschah wochenlang nichts.
Eines Tages traf schließlich ein schmaler Brief mit dem Stempel des Ältesten auf dem Umschlag ein. Der Brief enthielt eine Einladung zur Teilnahme an »einer musikalischen Soiree«, die zu Ehren der Neuankömmlinge im Kulturhaus in der Krawiecka stattfinden sollte, und |131| Arnošt Schulz beschloss, zusammen mit seiner Tochter hinzugehen. Er besuchte die Veranstaltung mit gemischten
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