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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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ihre Schlafplätze gespannt, um die nasse Wäsche aufzuhängen. Alle kriechen in sich zusammen, sosehr es nur geht; Kinder schreien, weinen, brüllen; und viele der Kranken geben Weh- und Speilaute von sich.
    So vergehen die Nächte, und die Tage brechen an.
    Und dann wird es wieder Nacht. Und allmorgendlich dieselbe dünne braune Suppe, die so verdorben riecht und schmeckt wie die vorige – nach Ammoniak. Der Geruch der Suppe sitzt bis spät nachts in den Wänden, ist wie das Rumoren im Bauch und das Hungerband um die Stirn. Werde ich mich je daran gewöhnen?
    Das Schlimmste aber ist die Reue. Der Gedanke daran, dass wir uns hätten in Sicherheit bringen müssen, solange noch Zeit dazu war – dass Vater es für wichtiger gehalten hatte, seine Pflicht im Spital zu erfüllen, als sich um seine Familie zu kümmern. Dass er es ablehnte, an uns und Maman zu denken!
    Doch nichts davon kann ich sagen, denn jetzt macht sich Vater natürlich im Obergeschoss unentbehrlich, wo man eine Erste-Hilfe-Station für die Kränksten des Transports eingerichtet hat! Hier schreit man nach Ärzten! Doch ich kann nicht schlafen, so entsetzlich ist das Gefühl, nun zu wissen, dass keine Zukunft vor uns liegt …
    Irgendwo, auf irgendeine Weise muss Hilfe zu finden sein, andernfalls werden wir alle dahinsiechen und sterben … Irgendwo, es muss sie geben …

 
    |123| Adam Rzepin wohnte mit seinem Vater Szaja und seiner Schwester Lida in einer Wohnung mit einem Zimmer und Küche ganz oben in der Gnieźnieńska, nahe der Südwestgrenze des Gettos. In der Küche stand auch ein Bett für Szajas Bruder Lajb. Doch seit dem verhängnisvollen Streik der Tischler in der Drukarska war es, als läge ein Fluch auf Lajb. Er ging von Ressort zu Ressort und wechselte die Arbeit wie andere die Kleidung, und keiner wusste genau, wo er von Nacht zu Nacht schlief. Im Getto hieß es, er sei ein Spitzel der Kripo und dass man am besten daran tue, sich von ihm fernzuhalten.
    Im Bett, in dem Lajb sonst schlief, lag nun stattdessen Adams Schwester. Wenn Adam morgens aufstand, um Wasser zu holen und im Herd Feuer zu machen, blieb Lida liegen und lauschte den Engeln. Engel kamen oft vom Himmel herunter und sprachen mit ihr. Im Sommer sangen die Engel im Herdrohr, und im Winter zeichneten sie mit ihren feinen Schwungfedern Frostrosen ans Fensterglas. Adam und Lidas Vater Szaja hatten den Rahmen mit alten Lumpen abgedichtet, dennoch drang Feuchtigkeit herein, und im Winter war die Innenseite der Scheibe zuweilen gänzlich zugefroren und auf dem Griff lag feine Frostbehaarung. Es kam vor, dass ein besonderer Engel zu Lida sprach, den sie
Das große Tier
nannten. Lidas Welt war von kleinen Tieren bevölkert und vom großen Tier. Die kleinen Tiere waren platte Wanzen, die in Scharen hinter der Tapete saßen und über die Hände wimmelten, wenn man nur die Fußbodenleisten anhob. Das große Tier war ein blutiger Hungerengel.
    Wenn der Hungerengel seine Zähne in dich schlug, war es, als würde einem das Innere nach außen gekrempelt. Jeder Teil des Körpers schrie nach Nahrung, alles kam in Frage, wenn man es nur zerkauen, schlucken, den Magen damit füllen konnte. Wenn das große Tier eine Stimme erhielt, war es, als spräche es aus einem großen, dunklen reißenden |124| Hungerschacht. Das Einzige, was Lida tun konnte, war, erschrocken den Mund auf und zu zu machen, um dessen gequälte Schreie herauszulassen.
    Wenn das große Tier die Schwester packte, nahm Adam eine Decke und legte sich zu ihr; rückte so dicht an sie heran, dass es schien, als wolle er ihren Körper in seinen eigenen aufnehmen.
    Obgleich sie nicht mehr wog als wenig über dreißig Kilo, war Lidas Gesicht seltsam unversehrt, die Haut bläulichweiß und dünn wie Porzellan. Unter den Fetzen aber, in die Lida gewickelt lag, befand sich trotz allem ein Körper mit aufgedunsenem Bauch und zwei dünnen schmalen Brüsten. Wo die Haut aus Mangel an Nährstoffen noch nicht teigig aufgequollen war, war sie übersät mit blauen Flecken und Wunden. Jeden Morgen trug Adam Wasser aus dem Hof herauf und wusch seine Schwester in einem großen Holzbottich, bevor er sie erneut in ihre Lumpen hüllte. Doch auch, wenn er sie wusch, blieb Lidas Porzellangesicht leer und stumm, wie in ewiger Verwunderung erstarrt – darüber, dass die Welt existierte, dass es den Bruder gab und den Hungerengel, der dort draußen in der eiskalten braunen Dunkelheit mit seinen harten Flügeln schlug und schlug.
     
    Die Familie Rzepin

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