Die Elenden von Lódz
Gefühlen und ohne sich größere Hoffnungen zu machen; hinterher kehrte er »betrübt« zurück, wie er selbst es ausdrückte. Auch Věra beschreibt das Ereignis in ihren Tagebuchaufzeichnungen, die sie zu diesem Zeitpunkt noch mit gewisser Regelmäßigkeit führte.
Revueabend im Kulturhaus
Als Erstes empfängt uns eine Gruppe
polizajten
mit Armbinden und Schlagstöcken [!], die uns anweist, zur Seite zu treten, damit die
honoratiores
hereinkommen können.
Dass es im Getto Hierarchien gibt, hatte ich erwartet, aber nicht, dass sie von dieser Art sind. Es ist, als hätte man uns nur eingeladen, um uns zu beweisen, wie wenig wir zählen!
Wie Gefangene hinter Gittern standen wir da und sahen die
honoratiores
des Getto eintreffen. Ich sah Rumkowski höchstpersönlich, einen düsteren, weißhaarigen Mann, gleich einem pompösen Kaiser an der Spitze seiner Prätorianergarde. Das hätte lächerlich gewirkt, wenn sich nicht jedermann im Salon plötzlich vom Sitz erhoben und applaudiert hätte.
Dann begann die eigentliche Schauspielerei. Auf der Bühne das gemalte Bild einer Synagoge. Davor rennen ein paar Darsteller umher und lassen ihre Repliken mit lauter Stimme ertönen. Da das Publikum lacht, muss es sich um einen Scherz handeln, ich aber verstehe kein Wort. Es ist von Anfang bis Ende auf Jiddisch.
Dazwischen verschiedene musikalische Einlagen. Ein Fräulein B. Rotsztad trägt ein paar »leichte Romanzen« von Brahms auf der Violine vor, am Piano begleitet von Herrn T. Ryder. Fräulein B. Rotsztad spielt überraschend gut, wenn auch mit etwas zu ausladenden Gesten. Peinlich sind nur die Reaktionen des Publikums – es ist, als müssten sie überschwenglich reagieren, um zu beweisen, dass sie ein
richtiges
Publikum sind.
Dann hat der Älteste seine große Stunde, Herr Mordechai Ch. Rumkowski. Es wird mucksmäuschenstill im Saal, und man begreift, eigentlich sind alle nur gekommen, um ihn reden zu hören.
Er wendet sich sofort an uns, die am weitesten hinten stehen, aber er |132| spricht uns nicht auf Deutsch an, sondern auf Jiddisch, was für eine Weile völlig absurd wirkt, da diese Sprache nur wenige von uns verstehen. Vielleicht war es ja gut, dass wir nichts verstanden haben, denn im Nachhinein ist mir klar geworden, dass
der Alte
, wie er hier genannt wird, den Hauptteil seiner Rede darauf verwendet hat, uns auszuschelten und uns als »Raffkes« darzustellen, weil wir unsere Wertsachen nicht an »seine« Bank gegeben und uns nicht bei den Arbeitsstellen eingefunden haben, die er uns beschafft hat (das trifft offensichtlich nicht auf Vater zu!), und sollten wir uns von jetzt an nicht an sein Reglement halten, würde er uns auf der Stelle
deportieren lassen
– wohin nur? wohin? – begreift er nicht, dass wir gerade erst
deportiert worden sind
?
*
Zwei Tage nach dem »Spektakel« im Kulturhaus trifft der Älteste höchstpersönlich im Wohnkollektiv in der Franciszkańska ein. Die Frauen und Kinder an den Latrinen werden seiner zuerst ansichtig, oder besser gesagt: Die Kinder auf dem Hof entdecken das weiße Pferd, das den Wagen, mit dem der Älteste unterwegs ist, im Schritttempo schnaubend durch das breite Einfahrtstor zieht. Der Präses selbst scheint für eine Weile in dem ihn plötzlich umgebenden Meer wippender Schirm- und Baskenmützen unterzugehen. Doch sogleich sind die Leibwächter zur Stelle, und mit Fäusten und Schlagstöcken gelingt es ihnen, die Volksmenge so weit zurückzudrängen, dass er sich wieder frei bewegen kann.
Der Älteste inspiziert zunächst die Latrinen und die lange Reihe von Waschzubern, die dicht neben dem Kellereingang aufgestellt sind, bevor er und sein Leibwächtergefolge die ausgetretene Treppe des Schulhauses hinaufeilen. Dann durchschreitet er Korridor um Korridor. Überall, wo Mäntel und Jacken aufgehängt sind oder Koffer und Taschen übereinandergestapelt stehen, weist er an, lose Kleidungsstücke zu entfernen. Koffer, Taschen, Handtaschen: alles wird geöffnet und durchsucht. In einem der Klassenzimmer fängt eine der älteren Frauen herzzerreißend zu schreien an, als einer der Leibwächter ein Messer vorzieht und die Matratze, auf der sie soeben noch gelegen hat, mit harten, energischen Bewegungen aufschlitzt.
|133| Von allen Seiten stürmen Männer aus der neugegründeten Wachmannschaft des Prager Wohnkollektivs herbei; allen voran der frühere Klinikchef des Prager Vinohrady-Krankenhauses – Doktor Arnošt Schulz.
Schulz:
Herr Rumkowski, wollen Sie
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