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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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hatte schon lange, bevor es hier ein Getto gab, in der Gnieźnieńska gewohnt. Zu jener Zeit trugen alle Mitglieder der Familie zum Unterhalt bei, auch Onkel Lajb. Doch seit Lajb in Ungnade gefallen war, gab es, was Szaja anbetraf, nicht viel mehr als die tägliche Ressortsuppe, und vom Paketaustragen oder Kinderhüten, was Adam tat, wurde man nicht fett.
    Im Getto wurde jetzt viel über die Neuankömmlinge geredet. Mojsze Stern sagte, die reichsten Juden seien die aus Prag. Einige von ihnen hatten, Mojsze zufolge, sogar derart viel Essen mitgebracht, dass sie das, was sie nicht tragen konnten, nach ihrer Ankunft als Erstes an Kinder und andere Leute, die darum baten, verschenkt hatten.
    Wenn Adam Rzepin abends neben seiner kranken Schwester lag, grübelte er viel über diese Sache nach. Wie war es nur möglich, dass jemand mit einem solchen Überfluss im Getto eintraf?
    Die Prager Juden hatte man hier in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine |125| war im ehemaligen Kinderkrankenhaus in der Łagiewnicka 37, die andere in jenem Schulgebäude in der Franciszkańska untergebracht, das der Älteste im selben Sommer für die Lehrlingsausbildung bestimmt hatte. Adam entschied sich für letzteres Gebäude, weil er zu wissen glaubte, dass es von dort mehr und sicherere Fluchtwege gab; und ein paar Wochen später begann er die Gegend vorsichtig zu umkreisen.
    Der Schneefall, der am selben Tag, als die fremden Juden kamen, eingesetzt hatte, hielt noch immer an, wenn auch nicht mit gleicher Intensität. Es war kälter geworden. Auf dem Hof der Prager Juden waren ein paar Frauen damit beschäftigt, Eimer mit Wasser aus dem Brunnen hochzuziehen und sie ins Schulgebäude zu tragen. Sie bewegten sich unbeholfen und schwerfällig, sie waren
Stadtjuden
– das konnte man sehen. Auch die Kinder waren anders. Statt mit dem zu spielen, was zur Hand war, liefen sie nur lustlos über den Hof und schubsten einander umher.
    Adam begriff auf der Stelle, wie fremd er hier war. Er sprach Jiddisch im Alltag, Polnisch, wenn er musste. Doch das eigenartig spitze, singende Tschechisch, das die Frauen auf dem Hof redeten, war ihm vollkommen fremd. Er verstand kein Wort.
    Mojsze Stern, der mehrmals in diesen Wohnkollektiven gewesen war, hatte erklärt, es gebe nur eine Weise, sich zu den Neuankömmlingen zu verhalten. Man müsse lächeln und höflich sein. Also setzte Adam sein strahlendstes Lächeln auf, sobald er den Hof betrat. Lächelnd drängte er sich an einer kleinen Gruppe tschechischer Männer vorbei, die mit Schneeschaufeln in den Händen und dicken Mützen, deren Ohrenklappen auf dem Kopf verknotet waren, soeben aus dem Schulgebäude traten. Adam brauchte sich nicht umzudrehen, um festzustellen, dass sich deren Blicke in seinen Rücken bohrten. Der Kopf begann ihm zu schmerzen. Je höher hinauf er kam, desto fester zog sich das Schmerzband um seine Stirn zusammen, und als er ganz oben angelangt war, begann Lida zu singen.
    Nur einmal war es bislang vorgekommen, dass Lida, als er fort war, nach ihm gesungen hatte. Er und ein paar Kinder des Viertels hatten auf dem verlassenen Grundstück neben dem Bretterdepot in der Drukarska nach aussortiertem Bauholz gesucht. Das Grundstück war abgesperrt, |126| und das gesamte Depot wurde von Ordnungskräften bewacht, die vom Morgengrauen bis zum späten Abend Schicht machten. Zusammen mit Feliks Frydman vom Nachbarhof war es ihm gelungen, einen kleinen Gang unter dem Zaun durchzugraben, der die Rückseite des Holzplatzes abschirmte, und Feliks war bereits drinnen, als Adam Lidas Stimme vernahm, ebenso klar und sich deutlich einätzend wie der Ton, der entsteht, wenn man einen Löffel gegen ein halbvolles Trinkglas schlägt. Während der Ton verklang, spürte er einen Schmerz im Kopf, als stoße ihm jemand urplötzlich einen scharfen Eisendraht von Schläfe zu Schläfe. Er schaffte es kaum, sich in Sicherheit zu bringen, bevor die Wächter mit erhobenen Knüppeln heranstürmten. Feliks auf dem Hof drinnen hatten sie bereits geschnappt.
    Jetzt hörte er wieder Lidas Stimme; sie glich einem dünnen, durchdringenden Bohrsignal:
    Iiiiii-iiiiii
    Er fragt sich, ob sie ihn vor den Männern mit den Schneeschaufeln warnen will. Aber was hat er eigentlich zu verbergen? Er ist doch nur aus Neugier hier, um sich ein bisschen umzuschauen. Überdies ist er jetzt viel zu weit oben im Haus, um noch umkehren zu können.
    Die Leute haben ihre Schlafplätze in den Klassenzimmern und den Gängen davor, doch zu seiner

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