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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Verwunderung bemerkt Adam, dass zwischen den Schirmen, die man aufgestellt hat, um die Familien voneinander zu trennen, noch ziemlich viel Platz ist. Die meisten der zum Wohnkollektiv Gehörenden mussten ausgezogen sein; oder der Herr Präses hatte bereits Arbeit für sie alle gefunden. Manisch lässt er seinen Blick über Pritschen und provisorische Tische wandern, sieht Kleidung, Decken und Matratzen ausgebreitet oder zusammengerollt liegen, sieht Unmengen von Küchengeräten, Töpfen, Bratpfannen, Waschschüsseln und Behältern in- und übereinandergestapelt oder zusammen mit den Koffern unter die schmalen Pritschen geschoben. Doch nirgendwo sieht er etwas, das es wert wäre, es zu stehlen. Da fällt ihm plötzlich ein, was Mojsze erzählt hat – dass bei jedem Transport
mindestens
ein Arzt mitgekommen ist und dass diese Ärzte verpflichtet sind, in jedem Wohnkollektiv ein Sprechzimmer einzurichten. Im Erdgeschoss hat Adam solch eine Arztpraxis nicht gesehen. Also muss sie sich weiter oben im |127| Haus befinden. Er ist jetzt im dritten Stock. Hier sind die Zimmer enger, und der zwischen ihnen verlaufende Korridor ist schmaler. Er merkt, dass die Leute in ihren Bewegungen erstarren und sich nach ihm umdrehen, als er sich immer rüder vorbeidrängt.
    Mit einem Mal ist es um ihn ziemlich leer geworden.
    Von der Seite nähern sich zwei jüngere Männer.
    Wo ist das Arztsprechzimmer?, fragt er.
    Auf Polnisch:
Gdzie jest pryzchodnia lekarska?
    Dann, vor allem um Zeit zu gewinnen, auch auf Jiddisch:
Ich suche den HERRN DOKTOR. Kann mir einer sagen, wo er ist?
    Einer der beiden jüngeren Männer glaubt, verstanden zu haben, was er meint, und zeigt unsicher weiter den Gang hinunter. Während Adam in die von dem Mann gewiesene Richtung geht, denkt er, dass er hier vermutlich nie mehr lebend herauskommt.
    Doch am hinteren Ende des Flurs öffnet sich dennoch etwas, das aussieht wie ein Warteraum mit auf dem Boden vor einer geschlossenen Tür sitzenden oder halb liegenden Menschen. Er geht zur Tür und reißt sie auf, darauf gefasst, einen Arzt zu sehen, der erschrocken von der Untersuchung eines Patienten aufblickt. Zu seiner Verwunderung ist der Raum leer. Ein ganz normales Büro mit einem Schreibtisch, dahinter ein Armlehnstuhl und neben dem Schreibtisch ein Schrank mit ein paar Schalen, Verbandsmaterial und unbeschrifteten Glasfläschchen in den Fächern. Er öffnet die Schranktüren und zieht die Schubladen heraus; sieht nicht so genau hin, was er nimmt, füllt einfach die Taschen mit Fläschchen, Dosen und Verbandsmaterial, so viel nur hineingehen will; begibt sich rückwärts wieder hinaus und schlägt denselben Weg ein, den er gekommen ist.
    Jetzt aber wird sein strahlendes Lächeln von niemandem mehr erwidert. Ein älterer Mann, an dem er sich vorbeizuschieben sucht, öffnet den Mund und schreit.
    Er fängt an zu rennen, ohne Rücksicht darauf, wer oder was sich in seinem Weg befindet. Bis er am Ende des Korridors eine Frau halb schlafend auf einem Holzschemel erblickt, ihr Kopf – eigentlich sieht er nur eine gewaltige Haarmasse in eine Art Kopftuch gebunden – hängt tief zwischen ihre Knie hinunter. Auf dem Boden neben ihr steht eine |128| Handtasche; eine
richtige
Handtasche. Sie ist groß, ziemlich einfach, aus verblichenem Leder und hat oben einen Knopfverschluss derselben Art, wie ihn Józefina Rzepin an der ihren hatte, wenn sie sonntags mit ihm die Piotrkowska hoch- und runterspazierte. Dieses plötzliche Erinnerungsbild an eine Mutter, die ihm sonst kaum im Gedächtnis geblieben ist, gibt den Ausschlag. Bevor Adam noch weiß, was er tut, hat er sich die Tasche geschnappt und stürmt die Treppe hinunter. Aus dem Augenwinkel sieht er die Männer mit den Ohrenschützermützen dieselbe Treppe
heraufgestürmt
kommen, eine Lawine aufgeregter Stimmen, aber sie kommen
zu spät
– von den
falschen
Türen – er weiß, dass er es vor ihnen hinunter und hinaus schaffen wird: noch zwei Schritte, und er ist plötzlich aus dem Haus.
    Franciszkańska. Blendend scharfes Schneelicht in den Augen.
    Lehmiger Matsch auf den Straßen. Leere Fassaden.
    Zehn Meter weiter unten führt zwischen zwei Häusern eine Öffnung auf einen schmalen Innenhof. Früher einmal waren alle Innenhöfe des Gettos von hohen Bretterzäunen umgeben, doch nun sind die Zäune abgerissen, zerhackt und als Heizmaterial fortgeschafft worden. Stattdessen öffnen sich hinter den undurchdringlichen Fassaden ganze Brandgassen, zuweilen breit wie Avenuen,

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