Die Elenden von Lódz
bitte so freundlich sein und sofort mit diesen Kalamitäten aufhören.
Ältester:
Wer sind Sie?
Schulz:
Schulz.
Ältester:
Schulz?
Schulz:
Wir sind uns schon begegnet. Sie haben momentan nur eine Gedächtnislücke.
Ältester:
Ah, Professor Schulz …! Sie als Arzt sollten doch wissen, dass herumliegende Kleidung und Gepäckstücke Läuse anziehen.
Schulz:
Ich bedauere dieses Versehen, Herr Präses. Die Sache wird sofort in Ordnung gebracht.
Ältester (zeigt):
Diese Dinge tragen wir jetzt auf den Hof und verbrennen sie.
Schulz:
Herr Rumkowski, so können Sie mit dem persönlichen Eigentum der Leute nicht verfahren.
Ältester:
Wer erlässt hier die Gesetze, Sie oder ich?
Schulz:
Aber das ist doch Wahnsinn.
Ältester:
Ich betrachte es als meine persönliche Pflicht, die im Getto herrschenden Missstände ein für alle Mal in den Griff zu bekommen. Das Einzige, was ich bei dieser Inspektion feststellen kann, abgesehen davon, dass Sie die von mir erlassenen Regeln und Vorschriften flagrant ignorieren, sind die Ansteckungsherde, die Sie ganz bewusst hier im Wohnkollektiv züchten.
Schulz:
Wenn Sie sich wegen der Ansteckungsgefahr beunruhigen, Herr Rumkowski, sollten Sie wohl dafür sorgen, dass es ausreichend Gas für alle gibt oder dass die Latrinen geleert werden.
Ältester:
Es ist möglich, dass die Toiletten dort, wo Sie herkommen, sauberer sind, Professor Schulz.
Schulz:
Nicht mal Tieren sollte man diese wässrige Suppe zumuten, die Sie uns hier vorsetzen. Das Brot ist schimmlig. Außerdem wird das |134| Leben der Frauen und Kinder von Gewalttätern bedroht, die sich am helllichten Tag von der Straße hereindrängen. Erst vor ein paar Tagen ist ein frecher Dieb in unser Arzneimitteldepot eingebrochen. Geld, Decken, Kochtöpfe – alles hat man uns direkt vor der Nase weggestohlen.
Ältester:
Wenn Sie Schutz brauchen, steht mein Ordnungsdienst zu Ihrer Verfügung.
Schulz:
Mit Verlaub gesagt, Herr Präses: Ihr
Ordnungsdienst
ist keinen Pfifferling wert. Ein paar Ihrer Männer habe ich hin und wieder gesehen. Sie kommen zur Essensausgabe; doch habe ich mehr das Gefühl, dass sie uns bewachen, damit wir Ihnen keine Suppe stehlen, statt umgekehrt. Deshalb haben wir jetzt unsere eigene Garde aufgestellt.
Ältester:
Ihre sogenannte Garde ist von diesem Moment an aufgelöst.
Schulz:
Sie können uns nicht daran hindern, uns zu verteidigen.
Ältester:
Wir haben eine Polizei im Getto, die steht unter meinem Kommando, und jeden Versuch, eine andere zu bilden, betrachte ich als Verrat. Wissen Sie, wie Verrat hier im Getto bestraft wird, Herr Schulz?
Schulz:
Drohen Sie uns? Drohen Sie uns?
Ältester:
Es gibt keinen Grund zu Drohungen. Ich bin in Ihren Augen vielleicht nicht mehr als ein König über einen Haufen Latrinentonnen, Herr Doktor Schulz. Aber eins weiß ich mit Bestimmtheit. Ein einziger Anruf von mir genügt, und Sie und Ihre Familie werden in nicht weniger als vierundzwanzig Stunden des Gettos verwiesen. Doch ich rufe nicht an. Ich lasse den Herrn Doktor trotz seiner Frechheit davonkommen. Für dieses Mal.
Währenddessen hatten Gertlers Männer Koffer und herumliegende Kleidungsstücke auf den Hof hinuntergetragen, Benzin darübergegossen und alles angezündet. In nur wenigen Sekunden reichten die Flammen bis zum zweiten, dritten Stock hinauf, wo die Menschen aus den Fenstern hingen und mit großen Augen zusahen, wie das Feuer eine schwarze Qualmwolke zur Hoffront gegenüber trieb. Außer Kleidungsstücken und Koffern, berichteten mehrere Familien im Nachhinein, waren ihnen auch persönliche Wertgegenstände wie goldene Ketten, Berlocken und Ringe abhanden gekommen. Ein Mitglied der Wohnkollektive |135| teilte obendrein mit, dass die Männer des Ältesten ihm seinen Wintermantel abgenommen, ihm sowohl Taschenuhr als auch die dazugehörige Kette von der Westentasche geschnitten und seiner Frau die dickgefütterten Schnürstiefel gestohlen hätten.
Ungefähr zur selben Zeit, als Rumkowski seine Inspektion des Wohnkollektiv
s
in der Franciszkańska durchführte, schlug die Kripo im Restaurant Adria am Bałucki Rynek zu, das zu einer Art speziellem Treffpunkt für die deutschen Gettojuden geworden war. Neun Personen der Wohnkollektive aus Berlin und Köln und fünf der Prager wurden auf frischer Tat bei unterschiedlichen Transaktionen ertappt. Einer der deutschen Juden hatte versucht, ein komplettes Essservice zu verkaufen, ein anderer eine Garnitur Tafelsilber. Es stellte sich heraus, dass sämtliche
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