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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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schlagen. Adam wusste nicht, was er tun sollte. Er wagte nicht wegzugehen, aus Angst, Hercberg könnte dann verschwinden. Er wagte es auch nicht, sich zu nähern, aus Angst, von Kutscher oder Wächtern erwischt zu werden.
    Nach einer knappen halben Stunde kam Hercberg wieder aus dem |149| Haus. Er sprach befehlend zu jemandem an seiner Seite; stieg darauf zurück in den Wagen und fuhr rasch davon. Der Mann, der ihm nach draußen gefolgt war, vermutlich der Vermieter, blieb eine Weile stehen; zog darauf das große Zauntor zu und schloss ab. Adam wartete, bis beide außer Sichtweite waren, und warf sich dann mit voller Kraft gegen das Gatter. Das Schloss gab nicht nach. Um das Haus verlief eine Umzäunung auf einer Steinbrüstung; sie war aus Eisen mit hohen scharfen Spitzen, geformt wie französische Lilien. Es gelang ihm, einen Fuß auf die Brüstung zu setzen, dann klammerte er sich so weit oben wie möglich ans Gitter und schaffte es mit einem weiteren Schwung, über die scharfen Eisenspitzen zu kommen. Doch hatte er keine Zeit, sich abzufangen. Der Fuß glitt beim Aufschlag ab, und ein heftiger, schneidender Schmerz durchfuhr sein Bein. Er humpelte hastig in den Schutz der Grundmauern. Wartete. Nichts.
    Jetzt sah er das Fenster, aus dem das Herdrohr ragte. Ein dünner, blasser Lichtschein bildete ein schwaches Viereck auf dem Schnee.
    Er ging zur Tür und klopfte. Nichts.
    Etwas anderes hatte er auch kaum erwartet. Er klopfte stärker.
    Sofort aufmachen, Polizei!
, sagte er.
    Die Tür wurde geöffnet. Drinnen stand Lida. Es war so kalt, dass das herausströmende Licht gänzlich blau war. Auch Lidas Körper war blau – von der porzellanzarten Halsgrube bis zum zerschundenen Unterleib. Er konnte nicht begreifen, warum sie keine Kleidung trug.
    Lida, sagte er.
    Sie lächelte ihn kurz und freudlos an, wie einen wildfremden Menschen, dann machte sie einen raschen Schritt auf ihn zu und spuckte ihm ins Gesicht.

 
    |150| Die erste Zusammenkunft zu den von der Besatzungsmacht angeordneten Aussiedlungen aus dem Getto fand laut Rozensztajns Protokoll am 16. Dezember 1941 statt. Wie auch in früheren Fällen war der Zusammenkunft keinerlei Korrespondenz vorausgegangen, sondern Rumkowski war ins Büro der Gettoverwaltung gerufen worden, um die Anordnungen direkt von den Behörden zu empfangen. Anwesend bei dieser Zusammenkunft waren neben Biebow dessen Stellvertreter Wilhelm Ribbe, Günther Fuchs und eine weitere Handvoll Repräsentanten der deutschen Sicherheitspolizei, die den Auftrag hatte, Transportfahrzeuge bereitzustellen und das Beladen vorzunehmen.
    Rumkowski stand da, wie er immer dastand und vor seinen Vorgesetzten immer dastehen würde. Das alternde weiße Haupt gesenkt, den Blick zu Boden gerichtet.
     
    Ich bin Rumkowski. Melde mich gehorsamst zur Stelle.
     
    Sie verhielten sich freundlich und korrekt, kamen jedoch direkt auf die Sache zu sprechen und machten den Judenältesten darauf aufmerksam, dass jetzt wieder ein langer, harter Kriegswinter bevorstand und es ihnen auf längere Sicht unmöglich war, die Lieferung von Lebensmitteln und Heizmaterial für all die Juden zu sichern, denen sie im Getto eine Heimstatt gewährt hatten. Aus diesem Grund hatte die Gauleitung in Kalisz beschlossen, einen Teil der Gettobevölkerung in kleinere Städte des Warthegaus umzusiedeln, in denen die Versorgungslage weniger akut war.
    Er hatte gefragt, um wie viele Personen es sich handele.
    Sie hatten geantwortet, um zwanzigtausend.
    Er hatte betroffen dagestanden und gesagt, er könne unmöglich so viele entbehren.
    |151| Sie hatten geantwortet, dass die Versorgungslage bedauerlicherweise nichts anderes zulasse.
    Dazu hatte er gesagt, dass die Behörden erst kürzlich zwanzigtausend fremde Juden ins Getto
eingesiedelt
haben.
    Darauf hatten sie geantwortet, dass der Beschluss in Sachen der fremden Juden in Berlin gefasst worden sei.
    Jetzt gehe es darum, die Versorgungslage im Warthegau zu klären.
    Dazu hatte er gesagt, er könne ihnen
zehntausend
anbieten.
    Darauf hatten sie geantwortet, sie könnten sich vorstellen, eine »erste Aussiedlung« auf zehntausend Personen zu begrenzen, soweit er garantieren könne, dass die Transporte ohne Verzögerung anliefen. Die Voraussetzung sei selbstverständlich, dass er selbst und sein Verwaltungsapparat sich um die Auswahl der aus dem Getto zu Verweisenden kümmerten und auch um deren Transport zu den Sammelplätzen bei Radogoszcz, wo die deutsche Polizei dann übernehmen

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