Die Elenden von Lódz
hatten, des Gettos verwiesen würden.
So war es gewesen: Manche wurden aus dem Getto deportiert, andere bekamen neue Schuhe.
Nicht anders als mit Onkel Lajbs Fahrrad hatte auch nie jemand solche Schuhe im Getto gesehen; richtige Schnürschuhe aus blankem, glänzendem Leder, mit massivem Absatz und dicker Sohle, durch derbe Stiche mit dem Oberleder verbunden. Als Lajb in der Gnieźnieńska durch die Wohnung ging, knarrten die Schuhe auf den Dielen, so wie ihre Schritte jetzt auf dem trockenen Schnee.
Unter normalen Umständen wäre die Wohnung um diese Zeit leer gewesen, der Vater bei der Arbeit. Doch als sie hereinkamen, erhob sich Szaja betreten vom Küchentisch. Adam schaute wie gewohnt zum Bett, in dem Lida zu liegen pflegte. Dort, wo das Bett gestanden hatte, befand sich ein Tisch mit zwei schmalen Sprossenstühlen, und auf diesen saßen ein Mann und eine Frau und zwischen ihnen, auf dem Boden, ein Mädchen von vielleicht zehn, zwölf Jahren.
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Das hier ist Familie Mendel
, sagte Szaja in feierlichem, dem
litwischen
Dialekt ähnlichem Jiddisch, das er sonst nie benutzte; und wie um das Gesagte zu verdeutlichen (auf Polnisch):
Sie kommen aus dem Prager Kollektiv. Man hat ihnen bei uns Wohnraum zugewiesen.
Herr Mendel ist ein kurzgewachsener Mann mit gekrümmter Haltung, er wirkt fast bucklig; mit kahlem Scheitel und runder Brille. Adam schaut ihm genau in die Augen, aber der Blick hinter den Gläsern ist vollkommen stumpf. Er sieht und sieht zugleich nicht. Neben ihm sitzt seine Frau und sucht etwas in einer Tasche.
Wo ist Lida?
, sagt Adam da.
Szaja gibt keine Antwort.
Adam dreht sich um, will Lajb dieselbe Frage stellen.
Wo ist Lida?
Lajb aber ist fort. Noch einen Augenblick zuvor hat er direkt neben Adam gestanden, das Gesicht ebenso stumm und ausdruckslos wie immer. Jetzt ist es, als wäre er niemals hier gewesen.
Seit Józefina Rzepin gestorben war, hatten Vater und Sohn gelernt, still und ohne viel Aufhebens ihren jeweiligen Tätigkeiten nachzugehen. Am Morgen hatte Szaja Feuer im Herd gemacht, während Adam Wasser vom Hof holen ging. Da Szaja als Einziger von ihnen eine richtige Arbeitskarte besaß, war es zumeist er, der bei der Ankündigung neuer Rationen vor den Verteilungsstellen anstand; während Adam die Mittagssuppe kochte, Wäsche wusch, Lida fütterte, mit ihr sprach und ihr vorsang.
Jetzt begreifen beide zum ersten Mal seit vielen Jahren, dass sie das zwischen ihnen entstandene Schweigen nur mit Worten brechen können. Adam hat ein großes Loch in der Brust. Dieses Loch heißt Lida. Doch es ist zu groß, um es mit Wörtern wie Vermissen, Unruhe oder Angst zu füllen. Oder vielmehr: Die Wörter, wenn er es wagte, sie auszusprechen, würden einfach darin verschwinden.
Ich habe nie um Hilfe gebeten
, sagt Szaja schließlich und weist mit dem Kopf zur Tür, durch die Lajb soeben verschwunden ist.
Adam erwidert nichts darauf. Am anderen Ende des Zimmers sitzt |146| Familie Mendel und folgt ihrem Tun mit unruhigen Blicken. Obgleich sie von dem, was geredet wird, nichts verstehen, scheint es, als hätte die Spannung zwischen Vater und Sohn auch auf sie übergegriffen.
Sie sagten, sie würden uns alle deportieren.
(Beim Wort »deportieren« senkte der Vater die Stimme noch weiter.)
Auch Lida stand auf ihrer Liste.
Also bat ich Lajb, mir zu helfen.
Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie jemanden um Hilfe gebeten.
Adam schaut seinem Vater in die Augen.
Wo ist Lida?, fragt er nur.
Auch Lida wollten sie deportieren.
Adam blickt zur Familie Mendel hinüber. Er fragt sich, ob Herr Mendel ihn als den
Übeltäter
erkennt, der in ihr Wohnkollektiv eingebrochen ist. Vermutlich tut er das. Es dauert nur noch etwas, bis ihm die Einsicht kommt. Dass er bei demselben Mann einquartiert ist, der versucht hat, ihm alles, was er besitzt, zu stehlen.
Lajb hat dir eine Arbeit besorgt.
Adam starrt seinen Vater an.
Am Bahnhof Radogoszcz. Die brauchen Leute beim Verladen. Gut bezahlt.
In Herrn Mendels Blick ist aus der Einsicht Entsetzen geworden. Er schaut Adam direkt an, und Adam schaut zurück. (Trotzig, höhnisch: Was kann der schon tun?) Dann zu seinem Vater:
Wo ist Lida?
Du ahnst nicht, wie es gewesen ist, als du weg warst.
Wo ist Lida?
Adam wirft sich über den Tisch und packt den Vater bei den Schultern; schüttelt ihn, als wäre er eine einfache Stoffpuppe. Am anderen Ende des Zimmers fährt Frau Mendel auf und presst das Gesicht ihrer Tochter an die Brust, wie um sie vor
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