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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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hatte er das Gefühl, das Getto löse sich um ihn auf. Die Häuser verloren an Höhe, verteilten sich hinter Mauern und Zäunen. Häuser, Nebengebäude: Schuppen und Werkstattbuden. Zwischendurch hier und da ein paar Gartenflächen, die früher zu den Lauben gehört hatten, nun aber waren sie zu Parzellen aufgestückelt, die er seinen loyalsten Mitarbeitern geschenkt hatte. Im Anschluss folgten die Kibbuze, ehemals von den Zionisten betrieben: große offene Felder; mit ihren Spaten und Hacken waren dort schöne junge Männer und Frauen zwischen schnurgeraden Reihen mit Kartoffeln, Grünkohl und Roter Beete herumgegangen.
    Das Grüne Haus war das am weitesten draußen liegende jener Sommerhäuser, die er zu Kinder- und Jugendheimen umfunktioniert hatte. Insgesamt gab es sechs solcher Kinderheime im Getto. Dazu auch ein neueingerichtetes Kinderkrankenhaus und eine große Apotheke. Doch sein Herz war bei den Kindern im Grünen Haus. Sie waren die Einzigen, die ihn an die freien, glücklichen Jahre in Helenówek erinnerten, vor dem Krieg und der Okkupation.
    Mit dem Gebäude war es nicht weit her: ein heruntergekommenes zweistöckiges Haus mit feuchten Wänden und einem Dach, das langsam einstürzte. Sobald seine Kinderkolonie von Helenówek hergezogen war, hatte er dafür gesorgt, dass das Haus neu gestrichen wurde. Die einzige Farbe, die sich im Getto auftreiben ließ, war Grün gewesen. Also waren die Wände grün geworden, ebenso das Dach, die Vortreppe, die Fußbodenleisten, ja sogar die Treppengeländer. Das Haus wurde so grün, dass es im Sommer kaum von der rankenden Vegetation zu unterscheiden war.
    Das aber war sein Reich: eine
schtetl- Welt
aus kleinen, sich aneinanderklammernden Häusern, in denen die Lampe des Fleißes bis spätabends in den Fenstern leuchtete. Am liebsten kam er unangemeldet zu Besuch. Er hatte dieses Bild von sich selbst: ein einfacher Mann, der unbekannte Wohltäter, den sein Weg trotz der späten Stunde nur ganz zufällig hier vorbeiführte.

 
    |155| Mit den Transporten waren in diesen Monaten auch viele Kinder eingetroffen, die ihre Eltern oder nahen Angehörigen verloren oder vielleicht nie dergleichen gehabt hatten. Eins von ihnen war ein Mädchen mit Namen Mirjam, ein anderes ein Junge ohne Namen.
    Das Mädchen war acht oder neun Jahre alt und fand sich im Grünen Haus mit einem Pappköfferchen ein, das es nicht aus der Hand geben wollte und in dem Fräulein Smoleńska später zwei sorgfältig gebügelte Kleider fand, einen warmen Mantel und vier Paar Schuhe. Eins davon ein paar Lackschuhe mit Silberschnallen. In einem Innenfach des Koffers lagen, fein säuberlich zusammengefaltet, die Papiere des Mädchens. Diesen Papieren zufolge lautete ihr vollständiger Name Mirjam Szygorska. Sie war in Zgierz geboren und auch dort gemeldet. (Aber sie war nicht aus dieser Stadt gekommen.) Im Koffer lagen auch ein paar Spielsachen, eine Puppe und ein paar Bücher in polnischer Sprache.
    Den Jungen hatten die beiden Brüder Józef und Jakub Kohlman ins Grüne Haus gebracht, auf direkte Anweisung des Transportleiters vom Kölner Kollektiv. Der Junge war mit dem letzten Transport aus Köln gekommen, am 20. November 1941. Auf der Transportliste stand er als Nummer 677 eingeschrieben. Diese Zahl aber besagte nicht mehr, als dass er als sechshundertsiebenundsiebzigste Person für den Transport registriert worden war. Am vorderen Rand der Spalte standen nur ein Vorname, WERNER, gefolgt von einem Fragezeichen, die Bezeichnung SCHUELER und zuletzt unter JAHRGANG: 1927. Ging man davon aus, dass hier kein Fehler beim Ausfüllen vorlag, sollte SCHUELER nur besagen, dass er zur Schule ging, und dem jungen Mann fehlte also der Familienname.
    Sie nannten ihn SAMSTAG, weil die Gebrüder Kohlman ihn am Sabbat am Tor des Grünen Hauses abgeliefert hatten; und unter diesem |156| Namen wurde er vom Leiter des Kinderheims, Doktor Rubin, ins Verzeichnis eingetragen:
     
    SAMSTAG, WERNER, geb. 1927 (KÖLN);
    VATER /MUTTER: Unbekannt
     
    Von Anfang an hatte er etwas Ungebärdiges, Ungeschicktes an sich. Er konnte an keiner Wand, keinem Türpfosten vorbeigehen, ohne dagegenzustoßen. Wenn sein Blick nicht gänzlich abwesend war, schien es dennoch stets, als suche er etwas hinter oder neben dem, was er gerade ansah. Und dazu dieses Lächeln. Werner lächelte oft und, nach Meinung Rosa Smoleńskas, die am häufigsten mit ihm zu tun hatte, nahezu unverschämt; ein Lächeln voller kleiner blanker weißer Zähne.
    Die

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