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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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einem Anfall zu schützen. Teller und Besteck fallen klirrend zu Boden.
    In einem Erholungsheim
, sagt Szaja nur.
    Lajb hat ihr einen Platz in einem Erholungsheim beschafft.
    *
    |147| Wie für viele Bewohner von Bałuty war Marysin auch für Adam gleichsam eine fremde Gegend. Ein Ort für die
anderen:
die Wohlhabenden, Männer mit Macht und Einfluss.
    Normale Menschen begaben sich nur nach Marysin, wenn ein besonderes Anliegen sie hinführte, zur Schuhfabrik, eins von Marysins wenigen
resorty
, oder zum Depot hinter Praszkiers Werkstatt, wo Personen mit besonderen Talons Schlange standen, um grob zerhacktes Holz oder Briketts zu erhalten. Oder wenn man tot war und begraben werden sollte. Tagaus, tagein konnte man sehen, wie Meir Klamm und die anderen Männer der Begräbnisabteilung mit Direktor Muzyks Leichenwagen die Dworska und Marysińska hoch- und runterfuhren. Jenseits der Mauer an der Zagajnikowa breitete sich das Reich der Toten derart gewaltig aus, dass man angeblich nicht mal von einer Seite zur anderen schauen konnte. Auch die Luft in Marysin war voll von Tod, dem fauligen Geruch feuchter, offener Erde, zerbröckelnden Zements und modernden Unrats; und wenn der Schnee zu Sand und Lehm zerschmolz und der Wind aus der falschen Richtung wehte, war sie von bittersüßem Salpetergestank aus den Latrinengruben erfüllt, die Fäkalienarbeiter mit ungelöschtem Kalk bedeckten. Man konnte sie von weither sehen. Eine lange Reihe mit Schaufeln ausgerüsteter Männer zeichnete sich vor dem Himmel ab, wie struppige Krähen auf einer Telegrafenleitung.
    In die Viertel um die Okopowa und Próżna, wo der Herr Präses und die anderen mächtigen Herren des Beirats daheim waren, hatte Adam noch nie einen Fuß gesetzt. Doch aus Mojsze Sterns Berichten wusste er, dass es Gettobewohner gab, die sich hier »zeitweilig Zimmer mieteten«, und dass man die Vermieter zuweilen die Marysińska hoch- und runterziehen sah auf der Jagd nach zeitweiligen Gästen.
    An dem Abend, als Adam Rzepin losging, um nach seiner Schwester zu suchen, war es bitterkalt. Hohe Schneewehen türmten sich zwischen den Häusern, wo kein Wagen mehr durchkam. Adam sah nicht viele Vermieter. Diejenigen, die er zu fragen wagte, wandten ihm instinktiv den Rücken zu. Für sie war er vermutlich nur ein simpler Habenichts: ein Mann »ohne Schultern«, wie es im Getto hieß. Wenn man nicht auf eine hochgestellte Person verweisen konnte, war man hier draußen buchstäblich niemand.
    |148| Ohne Lidas Stimme hätte er es hier allein in der Kälte wohl kaum ausgehalten. Lidas Stimme war schwach, wie ein hauchdünner Schatten hinter Glas; doch sie lebte und sprach unablässig in ihm.
    Ich werde dich mit nach Hause nehmen, Lida
, sagte er zu dieser.
    Hab keine Angst. Ich werde dich mitnehmen.
    Von manchen der Häuser stieg schwacher Rauch auf. Polizisten des fünften Distrikts, ausgerüstet mit Armbinden und hohen blanken Stiefeln, hielten Wache. Er sah sie mit einigen der Vermieter reden. Er wusste nicht, unter wessen Schutz gerade diese Viertel standen. Über den leeren Giebelwänden und den Mauerkronen der Marysińska leuchtete der Himmel blassrot vom Widerschein aus jenen Teilen Litzmannstadts, die nicht verdunkelt waren.
    Dann kam plötzlich eine Droschke aus dem Getto angefahren. Er hörte das laute Schnauben des Pferdes und das Klimpern von Halfter und Zaumzeug: ein Geräusch, so wohlbekannt, hier draußen indes so ungewöhnlich, dass jedermann gestutzt hätte. Der Schnee lag derart hoch, dass die Hufschläge kaum zu hören waren. Der Kutscher hielt an. Vom federnden Trittbrett stieg Shlomo Hercberg herunter, gekleidet in einen dicken langen Pelzmantel, der aussah, als wäre er aus Biberfell oder dem Fell eines anderen wilden Tieres. Im Wagen dahinter folgten zwei Leibwächter, und beide setzten sich instinktiv in Bewegung, wie um dieses lästige Hindernis zu beseitigen, das sich da plötzlich auf dem Weg des Gefängniskommandanten zeigte. Aber Hercberg hatte es an diesem Abend eilig, die Wächter begnügten sich damit, ihn zur Seite zu scheuchen; und Hercberg verschwand ein Stück die Marysińska hinauf in einem linkerhand liegenden Häuschen, das kaum mehr als eine Baracke hinter einem hohen gusseisernen Zauntor war, das jemand aus dem Haus aufschließen kam, sobald er sich zeigte.
    Die Droschke blieb stehen. Das Pferd schnaubte und stampfte in seinem Geschirr. Nach einer Weile stieg der Kutscher ab, begann hin und her zu laufen und die Arme um den Leib zu

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