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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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beiden Kohlman-Brüder, die mit ihm hergekommen waren, hatten erklärt, dass er weder Polnisch noch Jiddisch spreche. Doch als Rosa Smoleńska versuchte, ihn auf Deutsch anzureden, reagierte er nur mit unwirschen Grimassen. Es war, als verfügte er über die Worte und als verstünde er, was sie bedeuteten, doch schien er nicht zu begreifen, warum sie sagte, was sie sagte, oder ihn in der Weise ansprach, wie sie es tat. Versuchte man ihn zu zwingen, etwas, was er nicht wollte, zu tun, konnte er fürchterliche Wutausbrüche bekommen. Eines Tages kippte er einen Waschzuber um, den Chaja in die Küche getragen hatte; an einem anderen begann er im Rosa Zimmer Möbel aus dem Fenster zu werfen. Als Direktor Rubin zu ihm trat, um ihn zu beruhigen, biss er ihm in den Arm. Und ließ nicht los, obgleich sie sich zu viert, Chaja eingeschlossen, die mindestens doppelt so viel wog wie er selbst, auf ihn warfen, um die beiden zu trennen. Die kleinen dichtsitzenden Zähne erinnerten an die Zähne eines Hais, als sie nun, blank und scharf, in Direktor Rubins Arm steckten.
    Der Umgang mit den anderen Kindern schien ihm keine Probleme zu bereiten. Er war gern mit den Kleineren zusammen, am liebsten mit Mirjam. Befanden sie sich auf dem Hof, hing er nur in einer Ecke herum, fast komisch anzusehen in seinen viel zu ausladenden Schuhen und doppelt so groß wie seine kleinen Spielkameraden. Doch sobald Mirjam irgendwo hinging, folgte ihr Werner stets in einem Abstand von wenigen |157| Schritten. Mit den Jüngeren, mit Abraham und Leon, spielte er Polizei. Er jagte sie mit einem Stock und schrie wie all die anderen
ich hob dich gechapt
, indes mit einem seltsamen Akzent, der deutlich machte, dass er die Sprache nie zuvor in seinem Leben gesprochen hatte.
    (Im Nachhinein sollte sich Rosa erinnern, wie merkwürdig es ihr von Anfang an erschienen war, dass ein Mensch, der sich nie zuvor im Getto aufgehalten hatte, jede Tonlage und jeden Tonfall bis ins Detail imitieren konnte, was sie ihm bei einer Gelegenheit obendrein gesagt hatte – selbstverständlich auf Deutsch, weil das die Sprache war, die sie beide da noch immer miteinander benutzten:
Du bist doch ein kleiner Schauspieler, Werner …!
, um sein Gesicht im nächsten Augenblick in diesem grässlichen Lächeln erstarren zu sehen, das sie bereits zu fürchten gelernt hatte. Nur Zähne, kein Mund, und die blassblauen Augen vollkommen ausdruckslos.)
    *
    Rosa Smoleńska hatte sich ihr Leben lang um Kinder gekümmert, die weder Eltern noch ein Zuhause hatten. Acht Jahre war sie in Helenówek tätig gewesen, wo sie die Allerkleinsten betreut hatte. Abgesehen vom Leiter, Direktor Rubin, waren die Wirtschafterin Chaja Meyer und sie die Einzigen, die dem Präses nach der Okkupation ins Getto gefolgt waren. Die anderen Kinderschwestern flohen bei Kriegsausbruch nach Warschau. Doch sie waren auch allesamt verheiratet und hatten
Möglichkeiten.
Rosa selbst hatte weder einen Mann noch jemals irgendwelche Möglichkeiten gehabt: nur all diese Kinder! Jetzt waren es siebenundvierzig, zusammen mit Werner und Mirjam, den zuletzt Eingetroffenen.
    Rosa Smoleńska war morgens als eine der Ersten auf den Beinen. Im Winter stand sie bereits gegen vier oder fünf Uhr auf, um zu heizen. Nachdem sie im großen Küchenofen Feuer gemacht hatte, ging sie zum Brunnen, der sich ein Stück den Hang hinunter befand, wo der eingezäunte Teil des Großen Feldes begann. Wenn die Morgendämmerung anbrach, lagen auf den Wolkenbänken am östlichen Himmel häufig bleiche Lichtstreifen. Der Widerschein der aufgehenden Sonne ließ die |158| Ziegelmauer um die Begräbnisstätte lange Schatten in den Schnee werfen. Ein paar Stunden später war die Sonne über die Mauerkrone gestiegen, und das Licht glitzerte auf dem bereiften Draht, der in der Zagajnikowa zwischen den Telegrafenmasten herabhing. Früh gegen sechs oder sieben sah sie oft Gruppen von Arbeitern auf dem Weg zu oder von ihrer Schicht am Bahnhof Radogoszcz. Sie gingen dicht beieinander, wie um in der Kälte die Wärme besser zu halten; und sie sprachen kein Wort. Allein das dünne Scheppern der Suppengefäße war zu hören, die sie an der Taille festgeknotet hatten. In regelmäßigen Abständen donnerten deutsche Panzer oder Lastwagen durch die frostige Stille, und Posten mit Gewehren patrouillierten misstrauisch auf dem Gehsteig der Gettoseite. Näher heran kamen die Deutschen selten. Da waren die schwarzen Leichenwagen, die morgens aus Bałuty heranrollten, schon

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