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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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hinteren Teil der Einzäunung zu begeben, wo bereits knapp hundert Männer über ihre Habe wachten.
    So ist es
, sagte einer der Gefangenen, der bereits seine Suppe bekommen hatte und mit fast zahnlosen Kiefern an seinem Brot nagte.
Die Ausländer werden ins Getto gelassen und uns Hiesige lassen sie gehen.
    Adam faltete seine Papiere auseinander und betrachtete den Stempel:
    AUSGESIEDELT
    stand in großen schwarzen Lettern quer über dem oberen Teil der Arbeitskarte, wo Name, Alter und Adresse per Hand eingetragen waren.
    Da plötzlich, und gleichsam widerstrebend, fügte sich eins zum anderen.
     
    Sie hatten ihn nicht aus der Grube geholt, um ihn freizulassen, sondern um ihn aus dem Getto auszuweisen.
     
    Adam schaute sich um. Mehrere der Männer innerhalb der Absperrung kannten einander oder waren zumindest oberflächlich miteinander bekannt, doch während das Ritual mit den Namensaufrufen, dem Abstempeln der Papiere und der Verteilung von Suppe und Brot ablief, sagte keiner auch nur ein Wort. Es war, als würden sie sich voreinander schämen.
    Man wartete darauf, so viel verstand Adam, dass das Kontingent der Deportierten so weit angewachsen war, dass sie losmarschieren konnten.
Wohin?
Zu Sammelplätzen irgendwo im Getto, oder den ganzen Weg nach Radogoszcz? Wenn er deportiert wurde, was sollte dann aus Lida werden? Würde er sie je wiedersehen? In seiner Nervosität verschlang Adam die gesamte Brotscheibe auf einmal. Das Brot war dunkel und |143| erstaunlich saftig: die erste richtige Mahlzeit seit einem Monat. Er spürte, wie die Suppe im Magen wärmte.
    In diesem Augenblick entdeckte er auf der anderen Seite des Zauns seinen Onkel Lajb.
    *
    Zu der Zeit, als Lajb noch bei ihnen wohnte, hatte der ein Fahrrad besessen. Als Einziger der gesamten Gnieźnieńska verfügte er über ein Rad, und um zu zeigen, was für ein formidabler Besitz das war, holte er es unablässig heraus, nahm es auseinander und legte die Teile fein säuberlich auf ein Stück Öltuch. Jedes Ding für sich; die Kette für sich und auch die Werkzeuge für sich, in ihrer Hülle mit Fächern und Falten für Schlüssel und Klemmen. Anschließend schraubte er das gesamte Fahrrad wieder zusammen, während die Kinder des Hofes im Kreis um ihn herumstanden und bewundernd zuschauten.
    Mehrere Abende der Woche widmete er diesem Ritual. Außer am Sabbat.
    Am Sabbat stand Lajb mit dem Gesicht zur Wand, in der Hand das Gebetbuch, und betete. Lajb sprach die achtzehn Segnungen mit derselben umständlichen Präzision, wie er sein Fahrrad auseinanderschraubte und wieder zusammensetzte. Wenn er den Gebetsschal umtat, sprach er den Segen über den Gebetsschal; wenn er seine
tefillin
anlegte, dankte er Gott, weil er die Gebetsriemen entgegennehmen durfte. Immer eins nach dem anderen. Und Adam dachte beim Anblick von Lajbs betendem Gesicht, dass es mit seinen schmalen Augenschlitzen aussah wie der Fahrradsattel und die Halssehnen wie die Vorderradgabel, die zur Nabe hinunterführte, um die sich das Gebetsrad mit flinken Speichen drehte: still und unmerklich. Ohne es zu wissen oder zu wollen, befand sich Lajb stets im Zentrum des Kreises. Wohin er auch ging, versammelten sich Leute um ihn und schauten ihn mit Achtung und Bewunderung an. Damals, in der Gnieźnieńska, waren es kleine Jungen gewesen. Diesmal waren es die Gefängniswärter. Sie näherten sich Lajb, als wäre er ein heiliger Rabbi. Schon ein paar Minuten später kam ein glücklicher Wärter mit neugestempelten Papieren auf Adam zugeeilt, er strahlte übers ganze Gesicht:
     
    |144|
Rz-zepin! Heute ist dein Glückstag, Rz-zepin.
    Du bist von der Liste gestr-strichen.
    *
    Sie gingen schweigend nebeneinander her, Lajb und er.
    Aus entgegengesetzter Richtung kamen weitere Gruppen Männer und Frauen, die ihren Deportationsbescheid kürzlich erhalten hatten und nun unterwegs zum Sammelplatz am Zentralgefängnis waren. Erneut bildete sich eine Art Kreis oder Leere um sie beide. Adam wagte den zu Deportierenden nicht ins Gesicht zu schauen. Er wagte den Blick nicht höher zu heben als bis zu deren Knien. Die meisten von ihnen trugen keine Schuhe, hatten nur Fußlappen um die Knöchel gewickelt, oder ihre Füße steckten in einfachen schlappenden Holzschuhen, die sie im Schnee wie Fußfesseln hinter sich herzogen.
    Adam dachte an die neuen Schuhe, die er Onkel Lajb hatte zuschnüren sehen, am Tag, nachdem der Herr Präses bekanntgegeben hatte, dass die Arbeiter, die den Streik in der Drukarska organisiert

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