Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
Vom Netzwerk:
könne.
     
    Diejenigen, die dem Ältesten nach dieser Besprechung begegnet waren, sagten, er habe zwar aufgewühlt, zugleich aber auf seltsame Weise beherrscht und entschlossen gewirkt. So als hätte die Zusammenkunft mit der Obersten Macht, ebenso wie die Tatsache, dass er allein berufen worden war, deren Absichten in die Tat umzusetzen, ihm neues Leben in Körper, Seele und Geist eingehaucht.
    Er wiederholte ein ums andere Mal:
     
    Zehntausend Juden werden gezwungen, das Getto zu verlassen. Das ist richtig. So lautet der Beschluss der Behörden. Aber wir dürfen uns nicht nur daran festbeißen. Es ist vernünftiger, die Frage andersherum zu stellen und stattdessen die gebotenen Möglichkeiten zu sehen. Wenn zehntausend unwiderruflich das Getto verlassen müssen, auf welche Personen kann das Getto dann am ehesten verzichten?
     
    Auf Anraten des Ältesten beschloss man, eine
Aussiedlungskommission
zu bilden, deren Aufgabe es war, alle Angelegenheiten hinsichtlich der Aussiedlung zu regeln. Die Arbeit der Kommission sollte vom Chef des Meldeamts, Rechtsanwalt Henryk Neftalin, geleitet werden und sich |152| neben Rumkowski aus dem Kommandanten des Ordnungsdienstes Leon Rozenblat, dem Gerichtsvorsitzenden Szaja Jakobson und dem Leiter des Zentralgefängnisses Shlomo Hercberg zusammensetzen. Die Kommission hatte die Aufgabe, die Einwohnerlisten
von vorn bis hinten
durchzugehen und nach Abgleichung mit den Angaben aus dem Strafregister und den Patientenverzeichnissen der Gettokrankenhäuser zu beschließen, welche Personen verschickt werden sollten.
    Man legte fest, dass bei der Ausweisung tunlichst keine einzelnen Personen deportiert, sondern
besser ganze Familien gehen gelassen
werden sollten. Ferner wurde beschlossen, dass die Verschickung sogenannter
unerwünschter Elemente
Priorität haben sollte. Als jemand fragte, welche Kriterien galten, um als »unerwünscht« betrachtet zu werden, erwiderte der Älteste, man solle das Strafregister befragen. Notorische Schwarzhändler, bekannte Rückfalltäter, Prostituierte, Diebe – jene, die es zu ihrem »Broterwerb« gemacht hatten, mit der Verlorenheit und der Verzweiflung anderer Menschen zu handeln: Diese sollten als Erste gehen.
    Und wenn die Person oder die Personen, die als unerwünscht angesehen wurden, wider Erwarten nicht im Strafregister zu finden sein sollten? Dann solle man auf ihn verweisen. Der Beschluss zur Deportation möge ja vielleicht von den Behörden kommen, jedoch nicht anders als beim vorigen Mal behielte er sich das Recht vor, persönlich festzulegen, wer zu gehen habe.

 
    |153| Vom Ältesten hieß es in dieser Zeit, dass er niemals schlief.
    Tag und Nacht saß er voller Qualen über den Listen der Aussiedlungskommission.
    Sein Zimmer: ein einzelner erleuchteter Kubus in der Bürobaracke am Bałucki Rynek. Wegen des Verdunkelungszwanges brannte sonst nirgendwo im Gebäude Licht. Solange er jedoch über der Arbeit saß, blieben auch Teile seines Stabs im Haus. Sie schlichen durch die finsteren Räume, drückten sich hinter Türpfosten und Möbel, stets bereit, auch seinem geringsten Geheiß zu folgen. Als die Gettouhr an der Ecke der Łagiewnicka auf Mitternacht zuging, schlug er die Akten zu und bat Fräulein Fuchs, den Wagen zu bestellen. Er beabsichtige, die Kinder im Grünen Haus zu besuchen und anschließend in der Residenz an der Karola Miarki zu übernachten.
    (»Aber es ist spät, Herr Präses. Es ist fast zwölf.«
    Mit einer Handbewegung tat er ihre Einwände ab:
    Rufen Sie auch Feldman an und bitten Sie ihn, dort schon rasch vorbeizugehen und zu heizen.)
    Trotz der Qual, die ihm diese Arbeit bereitete, lag etwas zutiefst Befriedigendes darin, derart spät vom Büro aufzubrechen. Die hohen Fassaden mit ihren verdunkelten Fensterreihen schenkten ihm ein Gefühl des Friedens. Hier und da, an einer Straßenecke oder vor einer Werkstatt, stand ein Polizist Wache. Vor der roten Klinkerburg der Kripo parkten die schwarzen Limousinen der Gestapo in langen, glänzenden Reihen.
    Weiter ging es über die nachtleeren Marysiner Straßen.
    Er saß, die Hutkrempe in die Stirn gedrückt und den Mantelkragen zu den Ohren hochgeschlagen. Das Einzige, was in dieser dunklen Mitternachtsstunde zu hören war, mit Ausnahme der quietschenden Wagenräder und des gedämpften Geklappers der Hufe, waren die wiederkehrenden |154| Peitschenhiebe des Kutschers, mit denen er das Pferd antrieb.
    Marysin war überdies ganz anders. Jedes Mal wenn er hier hinausfuhr,

Weitere Kostenlose Bücher