Die Elfen 04 - Die Elfenkönigin
seien es Vogelschwingen und stieg hoch in den Himmel hinauf.
Pfeilschnell zog es dahin, bis ein gewaltiger Berg vor ihm erschien. Es flog auf einen Felsturm in einem Schneefeld zu. Dort kauerte ein erfrorener Elf. Ganz deutlich sah Emerelle, dass das Buch unter seinem linken Fuß lag.
Dann war da wieder das Gesicht des Mädchens. Und das Ollowains. Ohne dass der Schwertmeister auch nur ein Wort sprach, erkannte sie an seinem verhaltenen Lächeln, dass er wieder ganz er selbst war. Er hielt das kleine Buch in der Hand. Seine Augen strahlten. Er winkte ihr zu …
Das Bild änderte sich. Sie blickte auf Vahan Calyd hinab und sah das Fest der Lichter. Immer und immer wieder. Viele Jahrhunderte vergingen. Einmal glitt ein bedrohlicher Schatten dicht unter ihr durch den Himmel. Plötzlich wehten fremde Banner über der Hafenstadt. Die Palasttürme lagen in Trümmern und überall waren Fahnen mit einem toten schwarzen Baum vor weißem Grund zu sehen. Sie sah sich und Skanga. Sie hatten einen dritten Albenstein! Und sie taten etwas Ungeheuerliches! Wieder sah sie das Mädchen mit dem goldblonden Haar. »Emerelle?«
Sie setzte sich mit einem Ruck auf. Ihr standen Tränen in den Augen. Ihr war kalt. »Sie sind da«, sagte Melvyn leise. Er hielt sie noch immer in seinen Armen. Behutsam schob er sie von sich fort.
Noch immer von ihren Träumen benommen, stand sie auf. Wolkentaucher und Fleckfuß saßen in dem weiten Schneefeld. Vor der weiten, weißen Fläche wirkten sie klein wie Sperlinge. Auch sie fühlte sich klein. Sie sah den Berg hinauf. Der Gipfel entzog sich wie immer dem Blick. Es war ein klarer Tag. Der Berg war wunderschön. Er sah gar nicht aus wie ein Mörder. Vielleicht lag die Schuld auch bei denen, die unbedingt den Gipfel erreichen wollten. Jenen einen Ort auf der Welt, der allen Albenkindern versagt war. Sie ahnte, dass der Sänger dort oben war. Aber er hatte sich nicht zwingen lassen, sich ihr zu zeigen, wann sie es wollte. Vielleicht hatte er ihr die Träume geschickt … Die Alben sprachen nicht mit ihren Kindern. Aber das Schicksal der Welt, die sie erschaffen hatten, war ihnen nicht gleichgültig.
Emerelle fühlte sich klein und verloren auf dem weiten Schneefeld. Hatte der Berg sie Demut lehren wollen?
Melvyn kam mit ihrem Fluggeschirr. Seines hatte er schon angelegt. Er sah ein wenig lächerlich aus mit dem lederbezogenen Oval über seinem Kopf. »Bist du bereit?« Sie nickte. Er half ihr ins Gurtzeug und begann sie zu verschnüren. »Wohin wirst du gehen, Melvyn?«
Er blickte zu ihr auf und lächelte. »Zu Conlyn und Leylin. Zu meiner Familie. Ich habe Leylin nicht gesagt, wohin wir reisen werden, und ich habe Kadlin verboten, darüber auch nur ein einziges Wort zu verlieren. Weißt du, Leylin wirkt so ruhig und freundlich, aber manchmal kann sie sehr bestimmend sein. Sie hätte mich nicht ziehen lassen, wenn sie gewusst hätte …« Er zog seinen Gurt so straff, dass es schmerzte. »Und du? Bist du sehr enttäuscht?«
Sie beneidete ihn um seine Familie. Das war ein Leben, das sie nie kennengelernt hatte. Ihr Vater war schon tot gewesen, als sie geboren wurde.
»Ich muss noch einmal zum Felsen zurück.« Sie merkte, dass Melvyn die Verzögerung missfiel, aber sie musste es wissen. Sie ging zu der tiefen Spalte, die sie vor der Lawine bewahrt hatte. Zu dem Grab des namenlosen Elfen, der mit gefrorenen Lidern bis in alle Ewigkeit auf das Schneefeld hinabblicken würde. Unter seinem linken Fuß lag ein schmales schwarzes Büchlein. Sie war sich nicht ganz sicher, ob es schon dort gewesen war, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatten. Sie glaubte es nicht.
Emerelle kniete nieder. Das Oval ihres Fluggeschirrs schlug gegen die Felsen. Sie streckte sich, bis sie mit den Fingerspitzen das Büchlein berühren konnte. Es war wirklich da! Keine Illusion. Sie müsste es nur nehmen. Dann würde das Kind mit dem goldenen Haar in ihr Leben treten.
Ihr Kind. Und Ollowains. Wenn er das Buch las, würde er zurückkommen, und sie würde sein Herz gewinnen. Sie musste nur das Buch nehmen und es zu ihm bringen. Der Sänger hatte ihr also doch Antwort auf ihre Fragen gegeben. Auf seine Art. »Wir müssen hier fort«, rief Melvyn. »Wir sollten den Berg nicht noch einmal herausfordern. Bitte lass uns gehen!«
Emerelle strich mit den Fingerspitzen über das Buch. Sie dachte an das Kind. Nur vier Krönungsfeste würde es noch geben, wenn sie es nahm. Mehr als hundert Jahre … »Bitte, Emerelle! Die Adler werden
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