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Die Elfen von New York

Die Elfen von New York

Titel: Die Elfen von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Millar
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der Baum ja früher auch in anderen Gegenden. Jedenfalls gehört diese Blüte zu den Seltenheiten, die mein Blumenalphabet so schwierig machen.«
    Morag suchte den Horizont nach Ginkos biloba ab. Als sie das erste Mal von dem Blumenalphabet hörte, hatte sie sich vorgestellt, eine Blume müsse mit A beginnen, die nächste mit B, die folgende mit C und so weiter. Aber offensichtlich war die Sache viel verzwickter. Die dafür benötigten Blumen hatten nichts mit dem modernen Alphabet zu tun, sondern entsprachen alten keltischen Symbolen, und sie mußten nicht nur die richtige Gattung, sondern auch die richtige Farbe haben.
    Da kein Ginko biloba zu sehen war, wandte Morag ihre Aufmerksamkeit den Passanten zu.
    »Was für eine aufregende Stadt dieses New York ist! Schwarze Menschen, braune Menschen, weiße und gelbe und manche, die irgendwie gemischt aussehen. Ich finde es herrlich.«
    »Ich auch«, sagte Kerry. »Aber manchmal streiten sie sich.«
    »Warum?«
    »Weil sie verschiedene Farben haben.«
    Morag schüttelte sich vor Lachen.
    »Menschen sind wirklich dumm. Wenn wir Feen verschiedene Farben hätten, würden wir uns doch deswegen nicht streiten!«
    Heute war Kerry fröhlich aufgewacht, und selbst die Prozedur mit ihrem Beutel hatte sie nicht deprimiert. Morag wußte jedoch, daß die Depression später schon noch kommen würde, und zerbrach sich den Kopf, was sie dagegen tun könnte. Als Fee besaß sie zwar bemerkenswerte Heilkräfte, konnte aber bei solch komplizierten Fällen nichts ausrichten.
    In einem Schaufenster entdeckte Kerry eine kleine Brosche in Form eines achteckigen Spiegels, und sie ging in den Laden, um sie sich anzusehen. Es war ein Secondhand-Laden, vollgestopft mit Kleidern und Schmuck; auf dem Tresen stapelten sich Bücher und Karten, und dahinter lagen in einem Regal ein paar alte Musikinstrumente. Morag besah sie sich genau, während Kerry den chinesischen Ladenbesitzer nach der Brosche fragte. Sie stand nicht zum Verkauf.
    »Warum?« fragte Morag, als sie wieder draußen waren.
    Kerry zuckte die Achseln.
    »Was weiß ich! Er hat einfach gesagt, er verkauft sie nicht.«
    Sie schlenderten ein Stück weiter, und Kerry holte die Brosche aus der Tasche.
    »Du bist wirklich eine hervorragende Ladendiebin«, sagte Morag bewundernd. »Ich habe nichts gemerkt.«
    In einem großen Bassin vor einem Restaurant entdeckte Morag mehrere Hummer.
    »Wieso leben die denn hier draußen auf der Straße?«
    »Sie bleiben in dem Bassin, bis ein Kunde kommt und sie essen will. Dann landen sie im Kochtopf.«
    »Was?!«
    Morag war entsetzt. Wenn sie daheim in Schottland an der Ostküste umhergestreift war, hatte sie sich ausführlich und gern mit Hummern unterhalten. Daß Menschen sie aßen, davon hatte sie keine Ahnung gehabt. Als sie sich später auf den Heimweg machten, weil Kerry etwas essen und ihre tägliche Dosis Steroide gegen die Crohnsche Krankheit nehmen mußte, gingen Morag die armen Hummer nicht aus dem Kopf.
    Sie wickelte ihre Violine aus dem grünen Tuch und hielt sie sich sanft unters Kinn.
    »Was für eine schöne Melodie«, sagte Kerry.
    »Danke. Das ist ein bekanntes schottisches Klagelied. Aber ehrlich gesagt, habe ich mit dieser Sorte Musik nicht mehr viel im Sinn. Wenn Heather sich nicht so unmöglich aufgeführt hätte, wären wir nicht in Ungnade gefallen und aus Schottland ausgewiesen worden, und unsere radikale keltische Punk-Band würde genau in diesem Moment die ganze Nation in Aufruhr versetzen.«
    Der Anblick, wie Morag trübsinnig den Bogen über ihre Fiedel strich und ihr wehmütige Klagen entlockte, machte auch Kerry traurig. Als die Abenddämmerung hereinbrach, waren beide sich einig, daß sie am besten ein Kissen über das Telefon stülpen und ins Bett gehen sollten.
    Kerry wünschte ihren Blumen Gutenacht, küßte den sagenumwobenen walisischen Klatschmohn und legte sich schlafen.
    Im alten Kino auf der anderen Straßenseite ließ Cal junge Schauspielerinnen für die Rolle der Titania im ›Sommernachtstraum‹ vorsprechen.
    Heather sah ziemlich verärgert zu.
    »Keine einzige hat irgendwas von einer Feenkönigin an sich«, beschwerte sie sich später bei Dinnie, aber der war so beschäftigt damit, eine Extraschicht Erdnußbutter auf seine Schokoladenkekse zu schmieren, daß er kaum Notiz von ihr nahm.
    »Gestern habe ich eine Frau getroffen«, fuhr Heather fort, »die sich für Xenophon hält, den Athener Söldnerführer aus dem Jahr 401 v. Chr., der Kyros, den Anwärter auf den

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