Die Elfen
zu gehen! In all den Jahren war der Mond sein Vertrauter gewesen. Seine Vorfahren - jene, die zuvor seine Seele und seinen Namen getragen hatten -mochten ebenfalls diese Verbundenheit zum Mond verspürt haben. Der Lichtschimmer, der ihn traf, war wie ein kühler Windhauch, welcher der warmen Frühlingsnacht ein wenig Frische verlieh. Nuramon ging unter den Bäumen hindurch.
Unter einer Birke blieb er stehen und schaute sich um. Er war vor langer Zeit zum letzten Mal hier in diesem Garten gewesen. Man sagte, jeder der Bäume hier besitze eine Seele und einen Geist, und jeder, der ein offenes Ohr habe, könne sie flüstern hören. Nuramon lauschte, doch er vernahm nichts. Waren seine Sinne immer noch zu schwach?
Nun aber galt es, Noroelle zu finden. Dies war ein Obstgarten, also sollte er sie unter einem Obstbaum suchen. Er schaute sich nach den Früchten um, welche die Bäume hier das ganze Jahr trugen. Er sah Äpfel und Birnen, Kirschen und Mirabellen, Aprikosen und Pfirsiche, Zitronen und Orangen, Pflaumen und… Maulbeeren. Noroelle liebte Maulbeeren!
Ganz am Rande des Gartens standen zwei Maulbeerbäume, aber Noroelle war hier nicht zu finden. Nuramon lehnte sich an die Mauer und blickte über das Land. Die Zelte vor der Burg erschienen bei Nacht wie bunte Laternen. »Wo bist du nur, Noroelle?«, fragte sich Nuramon leise.
Da vernahm er ein Wispern in den Baumwipfeln. »Sie ist nicht hier, sie war nicht hier!« Erstaunt wandte er sich um - und sah doch nur die beiden Maulbeerbäume.
»Wir sind es«, drang es aus dem Geäst des größeren Baumes. »Geh zur Feentanne. Sie ist weise«, setzte der kleinere Baum nach. »Aber bevor du gehst, nimm von unseren Früchten!«
»Erzählt man sich denn nicht, dass beseelte Maulbeerbäume für die Sorge um ihre Früchte bekannt seien?«, fragte Nuramon voller Überraschung.
Die Blätter des größeren Baums raschelten. »Das stimmt. Wir sind nicht wie unsere seelenlosen Geschwister. Aber du bist auf dem Weg zu Noroelle.«
Der kleinere Baum schüttelte sich. »Es wäre uns eine Ehre, wenn sie von unseren Beeren kosten würde.«
Zwei Beeren fielen Nuramon direkt in die Hände. Die des kleinen Baumes war dunkelrot, die des großen weiß.
»Ich danke euch sehr, ihr beiden«, sagte Nuramon mit bewegter Stimme und machte sich auf den Weg. Er meinte eine Tanne ganz in der Nähe der Birke gesehen zu haben.
Als er die Feentanne erreichte, erinnerte er sich an sie. Als Kind hatte er im Winter dort mit den Auenfeen gespielt. Sie war weder hoch noch breit, sondern eher unscheinbar zu nennen. Aber sie war von einer Aura umgeben, die keine Kälte duldete. Daran war ein Zauber geknüpft, wie Nuramon ihn selbst beherrschte. Die Tanne besaß Heilkräfte. Er spürte es deutlich.
Ihre Zweige regten sich im Wind. »Wer bist du, dass du mich stören willst?«, raunte es aus ihrem Wipfel.
Ein Rascheln erhob sich rings umher. Überall dort, wo eben noch Stille geherrscht hatte, wurde nun gewispert.
»Wer ist es?«, schienen die Bäume zu fragen.
»Ein Elfling«, lautete die Antwort.
Die Feentanne gebot: »Still! Lasst ihn antworten!«
»Ich bin nur ein einfacher Elf«, sagte Nuramon. »Und ich suche meine Geliebte.«
»Wie ist dein Name, Elfling?«
»Nuramon.«
»Nuramon«, klang es vom Wipfel herab. Auch die anderen Bäume raunten seinen Namen.
»Ich habe von dir gehört«, erklärte die Tanne.
»Von mir?«
»Du wohnst in einem Haus auf einem Baum, auf einer Eiche namens Alaen Aikhwitan. Das Haus ist aus dem Holz, in dem einst die Seele der mächtigen Ceren steckte. Kennst du Alaen Aikhwitan? Und hast du von Ceren gehört?«
»Ceren ist mir nicht bekannt, doch Alaen Aikhwitan kenne ich. Ich spüre seine Anwesenheit, wenn ich zu Hause bin. Seine Magie hält das Haus im Sommer kühl und warm im Winter. Von ihm hatte meine Mutter die Heilkunst erlernt und ich von ihr. Aber er hat sich mir nie offenbart.«
»Er muss sich erst an dich gewöhnen. Du bist noch jung. Seine Boten haben mir von dir erzählt . von deiner Einsamkeit.« Nuramon lagen Fragen über Fragen auf der Zunge, aber die Tanne fragte nun ihrerseits: »Wer ist denn deine Liebste?«
»Ihr Name ist Noroelle.«
Ein heiteres Tuscheln wanderte durch die Baumwipfel rings herum, und Noroelles Name fiel gleich mehrere Male. Doch die Stimmen der Bäume verbanden sich auf eine Weise mit dem Rascheln ihres Blätterwerks, dass er nicht vernehmen konnte, was sie über Noroelle sagten.
Die Feentanne aber konnte er verstehen.
Weitere Kostenlose Bücher