Die elfte Geißel
mir das entgehen! Die Archivierung pädophiler Dokumente erstreckt sich nur bis September.«
»Vielleicht hat sie einen anderen Computer benutzt.«
»Nein, sie hat ihn erst vor zwei Jahren gekauft.«
Eine erste Spur: Stairway to Heaven befand sich erst seit Kurzem auf pädophilen Websites.
Annahme eins: Sie hatte diese Sites nicht aufgesucht, weil sie sich von Kindern sexuell angezogen fühlte.
Annahme zwei: Etwas oder jemand hatte sie in diese Welt getrieben, in der sie sich verirrte.
Kurz sah er einen Aspekt des Falls in einem neuen Licht. Die Filme, die Clarisse Katz im Austausch für Neverland gefordert hatte, waren diejenigen, in denen Alice Deloges zu sehen war. Sie wollte diese Videos und keine anderen. Es musste einen schwerwiegenderen Grund dafür geben. Aber welche Verbindung bestand zwischen Clarisse Katz und Alice Deloges?
»Es ist keine Verbindung, sondern eine Beziehung ...«, murmelte er – mit einem Mal ahnend, wie die Frau mit dem Mädchen in Kontakt getreten sein konnte.
Er wandte sich Zoé zu.
»Clarisse Katz unterrichtet Psychologie, oder?«
»Sie praktiziert auch. Ihre Praxis ist an der Place d’Italie.«
Einer Intuition folgend, öffnete Léopold die Dateien über die Patienten von Clarisse. Namen, Adressen, Zusammenfassungen analytischer Sitzungen. Er ging direkt zu den Monaten August und September.
In diesen beiden Monaten hatte sie achtunddreißig Personen in Therapie gehabt. Eine davon hatte womöglich die Neugier der Therapeutin derart angestachelt, dass sie die Schranke zwischen Wort und Bild überschritt. Léo öffnete die Aufzeichnungen der Therapeutin über die betreffenden Patienten.
Keine Deloges. Falsche Fährte. Noch eine. Er wollte klicken, um das Fenster zu schließen, als Zoé mit dem Finger auf einen der Namen zeigte.
»Amandine Clerc ... das ist die Studentin, die in ihrer Dissertation von Pädophilie sprach.«
»Sie war ihre Patientin und ihre Studentin ...«
Léopold stand mit einem Satz auf, stürzte Hals über Kopf aus dem Labor und ließ Zoé perplex zurück. Er lief durch Gänge, alles umstoßend, was ihm in den Weg kam.
Er musste einen dringenden Anruf bei der einzigen Person, die ihm helfen konnte, tätigen: der Jugendrichterin, mit der er bei diesen Ermittlungen zusammengearbeitet hatte.
»Madame la Juge? Hier ist Léopold. Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Léopold? Aber ich ...«
Er schnitt ihr das Wort ab.
»Erinnern Sie sich an den Prozess von Alice Deloges?«
»Ja, klar. Ich habe in dieser Sache den Staatsanwalt vertreten. Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie und ich das Mädchen befragt.«
»Haben Sie die Akte?«
»Ich muss eine Kopie des Urteils und der Prozessakten besitzen. Aber würden Sie mir um Himmels willen erklären ...«
»Dafür habe ich keine Zeit. Ich will wissen, ob es ein Zeugenschutzprogramm gab. Oder einen Antrag der Mutter von Alice Deloges auf Namensänderung.«
»Solche Informationen darf ich nicht weitergeben!«
»Bitte, es ist äußerst wichtig«, sagte er und bohrte förmlich die Finger in den Hörer.
Die junge Richterin am anderen Ende der Leitung zögerte, verunsichert durch den Ton des Polizisten. In den acht Jahren, in denen sie sich kannten, hatte sie ihn noch nie so aufgewühlt erlebt, und das, was er verlangte, war illegal. Sie riskierte viel, sehr viel, und daher zögerte sie, ehe sie sagte:
»Lassen Sie mir zwanzig Minuten. Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Léo ging um die Kaffeemaschine herum und fragte sich, ob ihn die Richterin mit seiner Bitte nicht einfach ins Leere laufen lassen würde. Die Kommissarin könnte die Information zweifellos beschaffen, doch er würde mindestens einen halben Tag verlieren. In seinem Schädel tickte es. Der Minutenzeiger verhöhnte ihn, weil er die Gegenwart festhalten wollte. Dabei wollte er nur, dass seine Vermutungen bestätigt wurden. Er atmete tief ein, als sein Handy läutete.
»Léopold? Ich habe das, was Sie wollen. Aber alles, was ich Ihnen sage, ist streng vertraulich und darf nicht im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens verwendet werden.«
Sie sicherte sich ab. Man konnte es ihr nicht verdenken.
»Abgemacht.«
»Es gibt einen Vermerk in den Akten, der ein Jahr nach dem Ende des Prozesses hinzugefügt wurde. Auf Antrag der Mutter des Opfers, Madame Deloges, und gemäß Abschnitt XXI der Strafprozessordnung, Zeugenschutz, und auf Verfügung des Staatsanwalts gemäß Paragraf 61 des Bürgerlichen Gesetzbuchs wird eine Namensänderung
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