Die elfte Geißel
waren.
Léo ordnete diese Elemente nacheinander, in der Hoffnung, die Codes der Dateien würden denen der Videos Neverland und Wonderland entsprechen. Das Archiv der aufgerufenen Websites hatte ihm etwa hundert Adressen geliefert, die auf Unteradressen verwiesen, welche durch Passwörter geschützt wurden. Digitale Schlösser. Verschlüsselte Inhalte.
»Schlechte Nachricht. Der Anwalt von Clarisse Katz ist gerade gekommen. Sie wird auf freien Fuß gesetzt. Wir haben nichts gegen sie in der Hand.«
Zoé machte die Tür zu, wie um sie gegen das ungewöhnlich hektische Treiben auf den Gängen abzuschirmen.
»Und die Videos? Sie hat sie doch heruntergeladen!«
»Sie hat sie nicht behalten. Man kann sie nicht wegen Besitzes von kinderpornografischem Material belangen. Ich habe alles versucht, aber sie hat einen tüchtigen Anwalt.«
»Diese Geschichte mit den achtundvierzig Stunden, hast du da Genaueres herausgefunden?«
»Nichts. Nachdem du weg warst, hat sie nur das wiederholt, was sie dir schon gesagt hatte. Ich habe ihr versprochen, dass wir sie beschützen werden, doch sie wollte nicht auspacken.«
»Und Amandine Clerc? Was ist da rausgekommen?«
»Sie hat seltsam reagiert und schien Angst zu haben. Allerdings hat sie nichts gesagt, was wir nicht schon wissen. Es ist eine ihrer Studentinnen.«
»Mist! Mist!«
Hinter den Scheiben des Labors eilten Polizisten und Fachleute von einem Zimmer ins andere, als würden die Posaunen der Apokalypse erschallen. Léo spürte die Angst, die sich in den Räumlichkeiten breitmachte.
»Was ist los? Seit einer Stunde geht es hier drunter und drüber! Man kann sich nicht konzentrieren.«
»Eine Kettenreaktion im Netz. Ein stark frequentierter Blog, der von Sarcelles aus verwaltet wird, hat zu einer allgemeinen Mobilisierung in den Vororten aufgerufen. Paris soll in Schutt und Asche gelegt werden. Der Verfassungsschutz hat sich eingeschaltet. Und du, wie weit bist du?«
»Ich vergleiche die Koordinaten der Dateien, die sie gespeichert hat, mit denen der Filme, die sie mir geschickt hat. Sobald ich sie habe, sollte ich in der Lage sein, den Server zu identifizieren, von dem sie die Videos heruntergeladen hat. Anschließend muss ich das Ganze dann nur noch bis zu der Website zurückverfolgen, auf der sie die Filme gefunden hat.«
»Wobei wir nur hoffen können, dass diese Website noch existiert«, flüsterte Zoé skeptisch.
Léo verkrampfte sich. Auch er hatte schon die Möglichkeit erwogen, dass die Webseite geschlossen worden war. Seit einigen Jahren florierten pädophile Sites, die nur für begrenzte Zeit geöffnet waren. An einem Stichtag wurden die Daten auf eine neue Site und einen neuen Server ausgelagert, sodass die Zerschlagung des Netzwerks einem Katz-und-Maus-Spiel glich.
»Ich übersehe irgendetwas ... dabei ist es vor meinen Augen. Es muss einen schnelleren Weg geben ... es ist nur eine Sprache ...«, flüsterte er zu sich selbst.
Die CPU ächzte unter der Zahl der zu erledigenden Aufgaben. Hinter diesen verfluchten, unübersetzbaren Zahlen standen Kinder, die litten. Er konnte sie weinen hören. Stöhnen, Angstschreie, kaltblütig digitalisiert, entwichen dem Bildschirm und hallten in seinem Kopf wider. Er wollte sie zum Schweigen bringen, die Stille wiederfinden, aber die Schreie wurden lauter und schürten seine Migräne. Kinder in großer Zahl gaben ein entsetzliches Konzert, einen gemeinsamen Klagegesang, den er allein lindern konnte.
»Es ist nur eine Sprache.«
Die Lösung lag viel näher. Der Rechner, die Algorithmen waren nur Ablenkmanöver, die ihn vom Wesentlichen entfernten. Was hatte er übersehen?
Er ging Schritt für Schritt noch einmal alles durch und spürte, wie sich seine Nerven und seine Muskelfasern anspannten, wie seine Lider immer schwerer wurden. Der Kampf zwischen seinem Körper und seinem Geist hatte begonnen. Erste Runde.
Er ging die Liste der aufgerufenen Websites durch, tauchte in die virtuelle Chronologie ein, um die Beweggründe von Clarisse Katz ans Licht zu bringen. Das schwebende Gefühl, der allwissende Zuschauer einer Intimität in zwei Dimensionen zu sein. Vor seinen Augen sah er die Vergangenheit, die Geheimnisse einer Frau Revue passieren. So nahe war er ihnen noch nie gewesen. Aus den aufgelisteten Daten und Uhrzeiten konnte er ihren Alltag, ihre schlaflosen Nächte rekonstruieren. Auf die Minute genau konnte er ihre Einsamkeitsgefühle nachzeichnen. Die Tatsachen sprangen ihm ins Auge.
Die Daten.
»Wie konnte
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