Die elfte Geißel
seinem Schuh weckte seine Aufmerksamkeit. Eine Schabe. Weitere Insekten lagen verstreut auf dem Boden herum. Inmitten der Chitinpanzer entdeckte der Capitaine einen ausgerissenen Fingernagel, den er aufhob. Der Betonboden war mit einigen Tropfen Blut besprenkelt.
Seine schlimme Vorahnung bestätigte sich für seinen Geschmack etwas zu schnell. Er begann zu hyperventilieren. Einatmen. Ausatmen. Anhalten. Im Zeitraffer. Aber der ungesunde Geruch nach Blut und Kot stieg ihm in die Nase.
Er bewegte den Lauf seiner Waffe immer ruckartiger von links nach rechts und umgekehrt. Sorgfältig darauf achtend, nichts zu berühren, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, folgte er den Bluttropfen. Die makabre Schnitzeljagd führte ihn zu der Leinwand im dunkelsten Bereich des Gewölbes. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und hielt den Atem an. Der Gestank nach Blut und Kot war mittlerweile unerträglich. Er stieß mit dem Kopf gegen eine der Glühbirnen, deren matter Lichtkegel über den Boden pendelte. Broissard wäre beinahe auf den Rücken gefallen. Die Glühbirne schaukelte und enthüllte dicke rote Streifen auf der Leinwand.
Blut tropfte in Schnörkeln herab und tränkte die Gewebefasern. Feinere Spritzer beschrieben abenteuerliche Kurven, die sich an der Wand fortsetzten. Der Polizist konnte gerade noch eine menschliche Gestalt erkennen, als die Szenerie schon wieder in Dunkelheit gehüllt war. Er stieß gegen den Videoprojektor hinter ihm, sodass das Lesegerät ansprang und eine eingelegte DVD abgespielt wurde. Die Maschine surrte und warf einen weißen Lichtkegel, in dem sich der Körper hinter der Leinwand deutlich abzeichnete. Mit gezogener Waffe näherte sich Broissard und zog das Tuch mit einer jähen Bewegung zur Seite, worauf das ganze Blutbad zum Vorschein kam.
Alain verstand nicht sofort, was er sah. Eine blutüberströmte Gestalt mit gefesselten Handgelenken baumelte gleich einer schlaffen, schleimigen Krake von der Decke herab. Sein Blick wanderte dorthin, wo sich das Gesicht seines Verdächtigen befinden musste, das von den gestreckten Armen eingerahmt wurde. Seile schnitten die Muskeln und die Sehnen bis auf die Knochen ein. Die Hände waren auf das Doppelte ihrer ursprünglichen Größe angeschwollen, und geplatzte Adern färbten die Finger blau. Die Füße schwebten über dem Boden und spiegelten sich in einer glänzenden Lache aus Blut und Fäkalien wider. Die Schließmuskeln hatten sich entspannt und die herauslaufenden Exkremente eine riesige Pfütze gebildet, in der eine ganze Kolonie von Schaben umherwatete. Wie ein zweites Lächeln öffnete eine tiefe Schnittwunde die Kehle von einem Ohr zum anderen, und die durchtrennte Aorta schien aus der Wunde hervorzutreten. Broissard warf den Kopf in den Nacken, um sich nicht zu übergeben.
In einem mechanischen Rauschen begann die Video-DVD abzulaufen. Der Film wurde auf den Leichnam projiziert, und das Bild eines nackten jungen Mädchens, das ausgestreckt auf einem Sofa lag, überblendete den makabren Anblick.
Großaufnahme. Eine alptraumartige optische Täuschung. Das Geschlecht des Mädchens überlagerte das Gesicht des Toten und schien es zu verschlingen.
Broissard wandte sich ab. Jenseits der Übelkeit war da der hartnäckige Eindruck eines Déjà-vu-Erlebnisses. Er kannte dieses Mädchen. Er hatte die Fotos gesehen, wie es von Luc Digler gecastet wurde.
Was machte die Kleine hier?
Er drängte den Anblick, der sich ihm bot, in einen Winkel seines Bewusstseins zurück und begann mit einer oberflächlichen Leichenschau. Er tastete die Muskeln an den Handgelenken ab und schauderte. Das Opfer hatte noch gelebt, als es aufgehängt worden war. Etwas steckte in der Luftröhre. Mit den Fingerspitzen spreizte er die Knorpelringe und zog ein Insekt heraus, das auf einer Nadel aufgespießt war.
Musca domestica . Eine Fliegenart.
Die Signatur. Die gleiche wie bei Gaspard Fogeti.
Broissard durchsuchte die Kammer wieder und wieder, zog die Schubladen heraus und drehte sie um, aber sie waren leer. Der Mörder hatte sämtliche Spuren beseitigt. Die Fährte endete in der Blutlache. Er glaubte die hämisch lachende Fratze Montoyas vor sich zu sehen. Der Erzengel hatte nicht lange gebraucht, um zu begreifen, wohin sich die beiden Polizisten nach ihrer Entdeckung auf offener See begeben würden.
Wut und Angst ließen seine Schläfen pochen. Dabei hatte er an sein Glück geglaubt und den Triumph zum Greifen nah gewähnt. Doch diese Hoffnungen waren nun
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