Die elfte Geißel
Sie mir bitte Ihren Vor- und Zunamen, Ihr Alter und Ihren Beruf.«
»Clarisse Katz. In drei Tagen werde ich dreißig. Ich bin Psychotherapeutin und Dozentin an der Universität Jussieu«, antwortete sie in mechanischem Tonfall und starrte ihn aus ihren geröteten Augen an.
»Wissen Sie, weshalb Sie hier sind?«
Sie antwortete nicht, flocht nervös ihre Finger ineinander und warf ängstliche Blicke Richtung Tür. Sie rang die Hände, und ihre Handgelenke wiesen Kratzspuren auf. Sie schien nicht zu wissen, wo sie war, ihr Körper und ihr Geist schienen voneinander getrennt zu sein. Léo fragte sich, ob sie unter dem Einfluss einer Droge stand, und beschloss, ohne Umschweife zum Punkt zu kommen.
»Mademoiselle Katz, geben Sie zu, dass Sie das Pseudonym ›Stairway to Heaven‹ benutzt haben?«
Er schob ihr die Kopien der E-Mails zu, die er erhalten hatte.
»Ja«, antwortete sie kaum hörbar.
»Könnte eine andere Person ohne Ihr Wissen Ihren Computer benutzt haben?«
»Nein ... niemand.«
Er bemerkte, dass sie leicht zusammenzuckte und dass eine Vene an ihrer Schläfe anschwoll. Ihre Stimme zitterte, aber das hatte nichts mit dem Verhör zu tun. Etwas anderes ließ sie in Panik geraten.
»Ein Liebhaber vielleicht? Eine Person aus Ihrem Umfeld, die Zugang zu dem Rechner hat?«
»Ich ... ich lebe allein.«
Die Psychologin wurde unruhig und kratzte wütend an den roten Flecken, die wie Bläschen an ihrem Hals auftauchten.
»Ich ... ich will meinen Anwalt sprechen.«
»Er wird gleich kommen«, sagte Léo und beschloss, es anders zu probieren. »Sie haben ein Video heruntergeladen, das die Vergewaltigung eines Kindes zeigt.«
»Ich habe mich geirrt, als ... als ich einen Film downloaden wollte.«
»Sie sagen, Sie hätten sich geirrt – warum haben Sie dann nicht die Polizei verständigt?«
»Ich habe den Film sofort gelöscht, und ich wollte es einfach nur vergessen.«
»Sie lügen«, sagte er mit ruhiger Stimme, erstaunt über die Schlichtheit ihrer Verteidigung. »Ich habe die Spyware an die Videos angehängt. Wir werden die Festplatte Ihres Computers analysieren.«
»Dazu brauchen Sie eine richterliche Anordnung.«
»Der Richter hat sie bereits ausgestellt.«
Léo reichte ihr das Dokument über den Tisch. Die Bresche war mittlerweile so groß, dass er in sie eindringen konnte. Behutsam, ohne ihr eine Rückzugsmöglichkeit zu lassen.
»Das unbefugte Herunterladen kinderpornografischer Bilder und Filme ist eine schwere Straftat.«
»Das war nicht für mich ... ich habe es für sie getan ...«
»Ich bin auf Ihre Mitarbeit angewiesen, Mademoiselle Katz. Dafür werde ich den Ermittlungsrichter davon in Kenntnis setzen, dass Sie bereitwillig kooperiert haben. Erzählen Sie mir alles von Anfang an.«
»Das ... das ist unmöglich. Ich kann nicht ...«
»Für Sie stellt sich das Problem ganz einfach dar: Zehn Jahre im Frauengefängnis von Fleury-Mérogis oder fünf Jahre auf Bewährung. Erzählen Sie mir, wie Sie die Filme Neverland und Wonderland entdeckt haben?«
Keine Antwort.
»Zu welchem Zweck haben Sie diese Videos heruntergeladen?«
Keine Reaktion. Léo spürte, wie sich sein Nacken vor Anspannung verkrampfte.
»Was hat Alice Deloges mit alldem zu tun? Wieso haben Sie die Filme von ihrer Vergewaltigung bestellt?«
Als Alice’ Name fiel, blinzelte sie schneller. Sie geriet in Panik und suchte hinter dem Spionspiegel Unterstützung. Doch von dort kam keine Hilfe – sie sah nur ihr Spiegelbild.
»Ich habe ihr nur geholfen ... aber ich ... ich darf nichts sagen.«
»Es ist nur in Ihrem ureigenen Interesse.«
Unvermittelt stand sie auf, die Nerven zum Zerreißen gespannt, und warf dabei den Stuhl um.
»Sie werden mich umbringen.«
Sie setzte sich wieder, mit gebeugtem Rücken, als fürchtete sie, geschlagen zu werden. Der Lieutenant konnte nicht abschätzen, wie aufrichtig ihre Einlassungen waren. Der Schrecken, der sie ergriffen hatte, war nicht vorgetäuscht. Er konnte den sauren Geruch riechen, der so typisch für Angstschweiß war, ein Geruch, den selbst der beste Schauspieler nicht reproduzieren konnte.
»Wer?«
»Diejenigen, die Alice ermordet haben ... Mit mir werden sie das Gleiche tun.«
»Aber von wem sprechen Sie? Wer wurde getötet?«
»Sie sind überall ...«
»Sie sind in einem Polizeirevier, Mademoiselle. Ihnen kann nichts passieren.«
»Sie wissen bereits, dass ich hier bin ... sie wissen alles.«
Sie durchbohrte den Lieutenant mit ihrem Blick. Die
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