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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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zunichtegemacht. Er griff nach einem Stuhl und schlug damit auf die Rechner. Während er sich umdrehte, schleuderte er ihn gegen die Regale, sodass der Videoprojektor herunterfiel. Der Film blockierte, weshalb die gleiche Szene immer wieder ablief und die Schauspielerin zu einer Marionette wurde, die ruckartige Gesten ausführte.
    Er stockte unvermittelt, den Stuhl hochhaltend. Irgendetwas hinter dem Mädchen weckte seine Aufmerksamkeit. Wie hypnotisiert starrte er auf das Himmelbett, das in der Mitte des Schlafzimmers stand. Die Farbe des Holzes, das Druckmuster auf dem purpurnen Stoff – alles stimmte haargenau mit dem Bett überein, das in Neverland benutzt worden war.
    Aus dem Projektor ertönte ein Knacken, begleitet von einem Brandgeruch, und schon verflüchtigten sich die an die Wand geworfenen Bilder. Alain stürzte zum Lesegerät und warf die DVD aus.
    Und dann sah er es.
    Unmöglich. Das ergab keinen Sinn.
    Benommen, als hätte er zehn Drinks heruntergestürzt, strauchelte Broissard zur Treppe. Ihm wurde schwindlig. Er setzte sich auf die Stufen.
    Das Opfer hatte ihm eine letzte Nachricht hinterlassen, bevor ihm die Kehle durchgeschnitten worden war.
    Auf der DVD stand mit schwarzem Filzstift und in Großbuchstaben ein einziges Wort: JARNAGES.

58
Paris,
Sondereinheit
    Léo betrachtete die Wirbel der Seine. Die Strömung stieß gegen die Spitze der Île de la Cité und spaltete sich in zwei getrennte Arme auf, die sich am Ende der Île Saint-Louis wiedervereinigten. Diese Konfiguration des Flusses rief ihm die Identität von Alice in Erinnerung, die ebenfalls gespalten war.
    Amandine. Alice. Amandine. Alice. Amandine. Alice.
    Die beiden Vornamen klangen wie eine Melodie, die einem nicht aus dem Sinn geht. Man hatte diesem Mädchen alles genommen. Ihre Unschuld. Hoffnung. Die Zukunft. Nur den Anfangsbuchstaben des Vornamens hatte man ihr gelassen. Unmöglich zu vergessen.
    Paris war in Aufruhr. Am Beginn des Boulevard Saint-Michel, unter der Statue des Erzengels, der den Drachen niederstreckt, versammelte sich eine dichtgedrängte Menschenmenge. Léo dachte an das wahre Gesicht des Erzengels, als ihn das Läuten seines Handys aus seinen Träumereien riss.
    »Apolline, ich höre.«
    »Lieutenante Blandine Pothin am Apparat. Ich bin von der Mordkommission. Ich führe Ermittlungen über eine gewisse Amandine Clerc durch, und ich brauche Ihre Hilfe.«
    »Moment, ich ...«
    »Ich habe nicht die Zeit, es Ihnen näher zu erklären. Treffen wir uns in fünfzehn Minuten im Leichenschauhaus. Ich erwarte Sie dort.«
    Sie legte auf, ohne ihn antworten zu lassen.
    Leichenschauhaus.
    Mordkommission.
    Léo erschauderte. Was hatten diese Wörter mit Amandine zu tun? Er ging schneller. Die Entfernung zum Institut für Rechtsmedizin schien sich auf unangenehme Weise zu vergrößern.
    Ein grauer Wolkenschleier riss auf, als er den Backsteinbau betrat. Eine junge Frau, die ebenso verstört war wie er, ging im Foyer auf und ab. Kaum hatte sie ihn erblickt, stürzte sie auf ihn zu.
    »Léopold Apolline? Ich habe Sie angerufen.«
    Sie reichten sich die Hand in dem Bewusstsein, dass sie auf diese Weise die Glieder der Kette zusammenfügten, die sie fesselte. Ihre jeweiligen Ermittlungen waren zu langwierig, zu verwickelt, als dass sie gewusst hätten, wo sie anfangen sollten. Blandine kam ihm zuvor:
    »Ich wollte Sie sehen ... Was wissen Sie über Alice Deloges?«
    »Alice beziehungsweise Amandine war ...«
    Blandine schnitt ihm das Wort ab.
    »Was sagen Sie?«
    »Alice und Amandine sind ein und dieselbe Person. Nach dem Prozess hat sie ihren Namen geändert.«
    Sie sah Léopold an, als hätte er ihr mitgeteilt, dass die Welt untergegangen war und sie die einzigen Überlebenden waren.
    »Mein Gott ...«
    »Haben Sie sie gefunden? Amandine? Ich muss sie sehen.«
    »Sie haben sie bereits gesehen«, antwortete Blandine mit düsterer Stimme.
    Léo starrte sie an, in Erwartung des Gnadenstoßes.
    »Genau hier. Als wir uns das erste Mal begegnet sind.«
    Léopold sah in der erbarmungslosen Klarheit des Obduktionssaals noch einmal die nackten Körper vor sich. Selbst im Tod glänzte ihr blondes Haar noch.
    Das Kind, das mit seinem Lächeln sein Leben tiefgreifend verändert hatte, war nur noch kaltes Fleisch. Der Schmerz war nicht so heftig, wie er geglaubt hatte, weil er durch die Erschöpfung gelindert wurde. Da er keinen Gegner hatte, kapitulierte sein Geist. Weder Rebellion noch Wut. Nur Unterwerfung.
    »Was ist

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