Die elfte Geißel
um. Zwei Leichen lagen auf Tischen, eine davon unter einem weißen Leintuch. Sie hob das Tuch an. Ein etwa fünfzigjähriger Mann mit durchschnittener Kehle. Blandine sah im Verzeichnis der tiefgekühlten Leichen nach.
Keine Amandine.
Léo konnte es nicht glauben.
Er öffnete die Tür zum Büro von Stéphane Firsh, wobei er die Siegel aufbrach. Die Regale und die Schubladen mit den amtlichen Akten waren leer. Er versuchte den persönlichen Schrank des Arztes zu öffnen. Er wusste, dass der Rechtsmediziner Kopien aktueller Ermittlungsakten in diesem Schrank aufbewahrte. Sofern die Mistkerle vom Dezernat für interne Ermittlungen diese nicht mitgenommen hatten. Er holte den Aktenordner hervor und fand den Bericht. Zusammen mit zehn Fotos der Leichen von Amandine und der Kleinen.
»Das sind sie«, sagte Blandine.
Léos Blick fühlte sich von dem Gesicht des Mädchens wie magisch angezogen.
Das Geburtsmal. Das dunkle Herz am Halsansatz. Das Herz auf der Haut.
Vor Aufregung schlüpfte ihm der Bericht durch die Finger.
»Ich erkenne es wieder.«
59
Paris, Quai des Orfèvres 36,
Mordkommission,
Sondereinheit
Ein Knäuel nackter Körper.
Übergroße Geschlechtsteile.
Verrenkte Kinderkörper.
Stöhnen.
Röcheln.
Blandine spürte, dass diese Alpträume sie von innen her leerlaufen ließen. Ihr Mitgefühl versiegte. Unbewusst klammerten sich ihre Hände an ihrem Bauch fest. Sie verdrängte den morbiden Gedanken, ein ähnliches Unglück könne ihrem Kind widerfahren. Sie gab ein Handzeichen.
Sofort hielt Léo den Projektor an. Sie schwiegen. Blandine unterdrückte den Impuls, alles hinzuschmeißen, und zwang sich dazu, sich nichts von ihrer Wut anmerken zu lassen. Léo reichte ihr die fotografischen Abzüge einzelner Standbilder aus den Filmen Neverland und Wonderland.
»Das zusammen mit Amandine getötete Mädchen taucht im ersten Film, nicht aber im zweiten auf. Sie ist die Einzige, die ich nicht identifizieren konnte. Sie wurde nicht als vermisst gemeldet.«
Léo deutete auf zwei Aufnahmen. Er hatte das Gesicht des Mädchens mit einem weißen Kreis markiert.
»Wie lässt sich das erklären? Ist sie von zu Hause ausgerissen?«
»Oder man hat ihr dabei geholfen.«
»Amandine? Wurde sie aus diesem Grund umgebracht?«
Léo nickte. Er hatte die Ergebnisse der Ermittlungen im Fall Blandine im Zeitraffer verarbeitet, und alle Elemente waren da. Man musste die Puzzleteile nur richtig zusammensetzen. Er durchdachte sämtliche Details, um Übereinstimmungen zu finden.
Blandine wollte die schändlichen Bilder, die auf sie einstürzten abschütteln. Sie hatte das dringende Bedürfnis nach frischer Luft und streifte ihren Mantel über.
»Wohin gehen Sie?«
»Sie haben mir gesagt, der Mann, der Amandine vergewaltigte, sitze im Gefängnis La Santé. Er muss etwas wissen. Vielleicht weiß er sogar zu viel. Geben Sie mir seine Akte.«
»Ich weiß nicht ...«
»Wir können uns jetzt keine Skrupel mehr erlauben, Léopold. Wir haben keine Zeit mehr. Ich werde Sie decken.«
Als sie das Zimmer verließ, blieb er allein mit einem seltsamen Gefühl zurück, das ihn das Schlimmste befürchten ließ.
Tick-tack. Tick-tack.
Seine innere Uhr begann wieder zu laufen und verstärkte den Eindruck, die Zeit verstreiche mit großer Geschwindigkeit. Er wählte die Nummer von Zoé, um sie über den Verlauf der Ermittlungen zu unterrichten. Doch eine Bemerkung von Blandine machte ihn stutzig.
Wie war es Amandine gelungen, das andere Mädchen aufzuspüren?
Der Hörer lag starr in seiner Hand. Er vernahm nicht das »Hallo?« am anderen Ende.
Die Antwort machte ihn sprachlos. Sie hatte die Filme gesehen. Sie kannte diejenigen, die sie gedreht hatten, und die Orte, an denen sie aufgenommen worden waren. Ihm wurde klar, dass Clarisse Katz die Filme nicht zufällig gefunden hatte. Amandine selbst hatte ihm die Adresse der Website gegeben. Alles war nun sonnenklar. Die Psychologin hatte sich davon leiten lassen, was die Patientin ihr in der Therapie anvertraute.
Aber wieso hatte sie sich nicht an die Polizei gewandt?
Er ließ den Hörer einfach über dem Boden pendeln und fegte wie ein Wirbelwind aus dem Gebäude der Pariser Kripo. Ein heftiger Graupelschauer peitschte ihm ins Gesicht. Er begann zu laufen – durch menschenleere Straßen.
Amandines Wohnung war nicht weit entfernt. In ihrem Bericht hatte Blandine bestätigt, dass sie dort einen Laptop gefunden hatte.
Vor dem Gebäude in der Rue Limé atmete Léo tief durch. Er
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