Die elfte Geißel
Unschuld von Gérard Maurois verflüchtigte sich mit der landschaftlichen Szenerie. Aber wieso hatte Maxime, in diesem Fall, die Anschuldigungen einfach hingenommen, ohne sich zu wehren? Weshalb hatte er die Ermittlungen manipuliert? Fragen schwebten vor ihm, ohne dass er sie zu fassen bekam.
Er gab Vollgas.
74
Crozant,
Sondereinheit
»Broissard am Apparat.«
»Haben Sie meine Nachricht erhalten?«
»In diesem Moment. Wo sind Sie?«
»Vor der Ruine. Ich habe einen Stollen im Felsen entdeckt – dort zerlegen sie die Leichen.«
Die ersten Gebäude des Dorfes zogen vorbei, durch die Geschwindigkeit verzerrt.
»Ich habe gerade Crozant erreicht. Ich ruf dich in zwei Minuten wieder an. Noch etwas. Halt dich versteckt, bis ich da bin. Der Mörder hat erneut zugeschlagen, und er ist spurlos verschwunden. Wenn du jemanden siehst, erschieß ihn.«
Mit quietschenden Bremsen hielt er direkt neben dem Wagen von Carrère und durchwühlte das Handschuhfach, in der Hoffnung, Musil hätte dort eine Zweitwaffe deponiert. Volltreffer. Eine MR73 mit kurzem Lauf und geladener Trommel. Das würde es schon tun. Er stürmte los, durchgerüttelt von den heftigen Windstößen eines von Norden heraufziehenden Sturms.
Am Fuß des Wachturms vögelte ein junges Pärchen in aller Ruhe. Die beiden schrien, als sie den struppigen Broissard mit der Pistole in der Hand erblickten, und suchten das Weite, ohne ihre Kleidung anzuziehen. Er achtete nicht weiter auf sie. Seine Entschlossenheit, diese Sache zu Ende zu bringen, trübte seine Wahrnehmung. Er rannte geradeaus bis zur Felsspitze.
Um ihn herum und in seinem Kopf war alles schwarz.
»Ich sehe dich nicht«, nuschelte er in den Hörer.
Licht. Ein dreifaches Blinken vom Felsen her. Er eilte den Hang hinunter zum Ufer.
»Schon wieder Wasser«, brummte er, während er bereits im Schlamm einsank.
Das andere Ufer war etwa zwanzig Meter weit entfernt. Die Durchquerung des Flusses war ein selbstmörderisches Unterfangen. Ohne Deckung würde er ein perfektes Ziel abgeben.
Er verdrängte die Alarmsignale in seinem Kopf und watete auf Zehenspitzen durch das Flussbett, um nicht zu versinken. Carrère empfing ihn aschfahl, als wären Geister über ihn hergefallen.
»Dort oben ist es«, sagte er, auf die Öffnung im Felsen deutend.
Broissard hielt ihn zurück.
»Diesmal gehe ich allein.«
Der Brigadier blickte ihn verdutzt an.
»Aber Sie ...«
»Lass mich ausreden. Einer von uns beiden muss wegen der Kinder hierbleiben. Verständige die Gendarmerie, sobald ich reingegangen bin. So bleiben mir ungefähr fünfzehn Minuten.«
Der Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. Carrère nickte widerwillig, er begriff, dass dies das Ende ihres gemeinsamen Abenteuers bedeutete. Alain wollte ihn an sich drücken, aber sein Körper rührte sich nicht.
»Für den Fall, dass ... ich nicht wieder rauskommen sollte, wollte ich dir sagen ...«
»Ich weiß«, antwortete Sylvain Carrère mit einem traurigen Lächeln.
Broissard kletterte den Hang hinauf und blieb am Eingang zu dem unterirdischen Stollen stehen. Die Atmosphäre war von einer erdrückenden Schwere. Er schloss die Augen und genoss zum letzten Mal die frische Luft.
In seinem Kopf erschallten die sieben Posaunen der Apokalypse, untermalt von der Musik Gustav Mahlers. Der erste Satz der Kindertotenlieder erklang. Seine Finger umklammerten den Kolben des Revolvers.
Er drückte die Augen fester zu und starrte in die Finsternis unter den geschlossenen Lidern, die Halluzinationen bändigend, die auf den Trümmern seiner Identität tanzten.
Mit einer übernatürlichen Klarheit sah er einen Schauer von Kometen auf die Erde niedergehen, Bäume in Brand setzend, das Eis schmelzend. Donner und Blitze durchzuckten den finsteren Himmel. Der Mond wurde rot, blutgetränkt wie eine klaffende Wunde in den Eingeweiden der Nacht. Das Blut des Gestirns vermischte sich mit dem Hagel, mit den Flammenzungen des Sturms. Die Naturgewalten wurden entfesselt und geißelten die Erde, bis nur noch Asche von ihr übrig war.
Es gab weder Licht noch das Jüngste Gericht.
Broissard öffnete die Augen. Er hatte die Wahrheit gefunden, nach der er suchte.
Den Boden berühren bedeutete nichts.
Eine seltsame Gelassenheit machte sich in ihm breit.
Endlich war er am Grund seiner selbst angelangt.
75
Paris,
Mordkommission
Ein blutiges Orange.
Ein klebriges Zinnoberrot.
Blandine zwinkerte mit den Augen, aber die Wimpern waren verklebt. Durch den Schleier hindurch sah sie
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