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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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Abschnürbinde, bis der Notarzt kommt.«
    Er ließ Musil nicht die Zeit, etwas zu erwidern, und stürzte aus dem Schlafzimmer auf den Flur. Mit gesenktem Kopf eilte er nach rechts und schlug die Tür eines großen begehbaren Kleiderschranks ein. Er richtete die Pistole auf die aufgehängten Jacken, die Kleider auf den Bügeln und den freien Raum dazwischen. Ein leises Zischen im Halbdunkel veranlasste ihn, sich umzudrehen. Er sah noch eine dunkle Silhouette, die die Treppe hinunterrannte. Sofort stürzte er ihr nach.
    Er eilte die Stufen hinab und wäre beinahe gestolpert. Das Wohnzimmer. Es schien ihm, als würde die laute Musik die Wände in Vibration versetzen. Er kauerte sich hinter dem Sofa zusammen und bemühte sich, wieder ruhiger zu atmen. Rechts von ihm vernahm er Schritte. Er entsicherte seine Waffe und schöpfte tief Atem. Da läutete sein Handy. Wütend warf er es weg. Durch das Klingeln hindurch hörte er ein Rascheln, das sich schnell auf das große Fenster zubewegte.
    Broissard sprang auf und zielte. Die Gestalt zeichnete sich vor dem schimmernden Aquarium ab.
    »Polizei! Stehen ...«
    Sein Finger rutschte über den Abzug. Der Schuss löste sich von selbst, und schon zersplitterte das Glasbecken. Unter einem ohrenbetäubenden Donnern ergoss sich ein türkisschimmernder Wasserschwall samt Fischen auf den Boden. Ihm blieb keine Zeit für einen weiteren Schuss. Der Schatten machte einen Satz durch die zertrümmerte Scheibe, Broissard ihm auf den Fersen.
    Kalte Luft. In vollen Zügen Sauerstoff einatmen. Zehn Meter Abstand. Er begann zu laufen, wie elektrisiert vom Widerhall des Knalls in seinem Kopf. Der gefrorene Rasen knisterte unter seinen Füßen. Die Lichtung verschmolz mit der Nacht. Die Wipfel der Bäume des Waldes ragten hoch in den Himmel. Wenn es der Killer bis zum Waldsaum schaffte, würde er im Dickicht verschwinden.
    Broissard versuchte vergeblich zu zielen und schoss einfach blindlings drauflos. Die Kugeln und die Hülsen spritzten wie ein Feuerwerk aus dem Pistolenlauf. Die Gestalt schlug plötzlich einen Haken und wurde unabsichtlich langsamer. Ein unverhoffter Fehler. Nur noch fünf Meter. Alain lief schneller und verringerte die Distanz. Er streckte die Hand aus. Seine Beute konnte ihm jetzt nicht mehr entwischen.
    Zu spät sah er die schimmernde Fläche vor sich. Sein Fuß versank wie in Treibsand. Von Entsetzen gepackt, spürte er, wie er das Gleichgewicht verlor. Er wollte schreien, aber sein ganzer Körper wurde eingesaugt. Eine eiskalte Welle. Ein Dolchstich, der ihn in die Brust traf. Vergeblich schlug er um sich. Seine Kleider klebten ihm auf der Haut, beschwert durch das Wasser, und lähmten ihn regelrecht. Da er sich nicht rühren konnte, fiel er wie ein Stein auf den Boden des Schwimmbeckens.
    Das Chlorwasser drang in seinen Mund, wo es einen ekelhaft bitteren Geschmack auf der Zunge hinterließ. Seine Lungen schrumpften auf Apfelgröße. Er biss die Zähne zusammen und sah zur Oberfläche empor. Die Mondsichel und die Silhouette des Killers, der sich über ihn beugte, zeichneten sich ab.
    Ein kurzes Knacken, gefolgt von einer gleißenden Helligkeit. Die Unterwasserscheinwerfer sprangen nacheinander an. Ein starkes Schwindelgefühl überkam Broissard. Von unten erblickte er mehrfarbige Bojen, Luftmatratzen in Neonfarben und den nackten Körper einer Frau, der träge im Wasser trieb. Blut strömte aus mehreren Wunden unter ihren Brüsten, die das Wasser im Becken blasslila und purpur färbten.
    Alain schlug mit den Armen um sich, das Gesicht zur Oberfläche gerichtet, in der Hoffnung, einen Schwall frischer Luft einzuatmen. Die Mosaiksteine, mit denen der Boden des Schwimmbeckens ausgelegt war, begannen zu wogen. Er gab nicht auf. In seiner Kleidung gefangen, schnürte er sich die Luft weiter ab. Das chlorierte Wasser brannte ihm in den Augen und ließ Farben und Linien noch stärker verschwimmen.
    Leuchtende Punkte tanzten vor seinen Augen. Er würde bald ersticken. Er hatte die Gewalt über seinen Körper verloren. Eine bittersüße Benommenheit verzerrte seine Wahrnehmungen. Sein Unterleib verkrampfte sich. Sein Geschlecht schien gleich zu platzen und mit ihm sein ganzer Körper.
    In der Stunde der Wahrheit dämmerte ihm die Eitelkeit seiner Überzeugung, Herr seines Schicksals zu sein. Er verstand nicht, welche innere Kraft ihn dazu bewogen hatte, diese Entscheidungen zu treffen. Sein ganzes Leben war eine einzige Flucht vor der Reue gewesen, und er hatte es durchquert,

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