Die elfte Geißel
an das er sich halten musste, und begann, die symmetrischen Schlüssel zu knacken – eine Folge von Algorithmen, mit denen sich Dateien verschlüsseln ließen.
Eine halbe Stunde später erschien eine vollständige Liste der von Amandine aufgerufenen Websites in Form eines riesigen Kryptogramms vor seinen Augen. Inmitten dieses Wusts von Code-Zeilen befand sich, wenn er sich nicht irrte, die Adresse der Website, von der das Mädchen Neverland und Wonderland heruntergeladen hatte. Léo zwang das Betriebssystem dazu, die Informationen zu entschlüsseln. Die Festplatte lief heiß und verlangsamte sich bei jedem weiteren Schritt, der zum Kern ihres Speichers führte. Der Ventilator würde schon bald nicht mehr genügen, um das System zu kühlen.
Chronologie der Internetzugriffe: zugelassen.
Entschlüsselung läuft.
Léopold unterdrückte einen Triumphschrei und begann seine Recherche mit Schlüsselwörtern. Neverland. Wonderland. Die Websites ratterten zu Dutzenden über den Bildschirm. Die Alpträume lauerten in einem Winkel seines Gehirns und warteten nur auf einen Moment der Schwäche, um ihn in den Wahnsinn zu treiben.
»Das musst du dir ansehen.«
Léo klickte auf das Fenster, das über der Symbolleiste blinkte, und öffnete ein Dokument, das Zoé ihm schickte.
Vertraulich.
Er überflog die Berichte über die Nachforschungen, die das Mädchen angestellt hatte.
Der Ton war kalt, klinisch, eine Aneinanderreihung lückenhafter Informationen, Gerüchte und Andeutungen. Die Schilderung der Erinnerungen an sein Martyrium enthüllten unmittelbar die Unstimmigkeiten der Ermittlungen. Ein Foto, auf dem angeblich das Haus des Vergewaltigers zu sehen war, versehen mit dem Kommentar:
»Das ist nicht das Haus, in dem ich dem Teufel begegnet bin. Ich erinnere mich an eine rote Tür, die mich in Angst und Schrecken versetzte. Ich habe es nicht gewagt, sie zu berühren, denn ich war mir sicher, dass sie mit dem Blut der anderen Mädchen, die vor mir hier waren, gestrichen worden ist.«
Wie um das Grauen dieser Enthüllungen zu unterstreichen, blinkte die Suchmaschine.
Objekt gefunden.
Léopold hüpfte das Herz im Leib. Seine Vermutungen erwiesen sich als richtig. Amandine war viel schlauer als sie gewesen. Sie hatte eine pädophile Website aufgespürt, die bislang allen Dienststellen, allen Dezernaten, die das Internet überwachten, entgangen war. Wo alle anderen gescheitert waren, war es ihr gelungen, den Styx bis zu seiner Quelle zurückzuverfolgen.
Die Inspektoren gaben die Internet-Adresse ein. Die digitalen Ziffern der Uhr blieben stehen. Zoé wandte die Augen ab.
»Verdammt ... das gibt es doch nicht.«
Léo blinzelte nicht, er zwang sich, die Website auf dem Bildschirm bis zum Erbrechen zu betrachten, hin und her gerissen zwischen Trauer und Wut.
Unvermittelt ergriff Zoé seine Hand.
»Spürst du es nicht?«
Sie trat an das Eisengitter heran, das vor dem Cybercafé heruntergelassen worden war.
»Und diese Stille ...«
Durch die schmalen Metallschlitze hindurch betrachtete sie die menschenleere Straße, in der alles hektische Treiben wie fortgeblasen war. Ein unnatürliches Dämmerlicht senkte sich auf die Gebäude herab.
Kein Mensch auf den Gehsteigen.
Niemand auf den Balkonen.
Kein Lebenszeichen.
Und eine immer bedrückendere Stille.
»Irgendetwas ist im Gange ...«
Dann eine plötzliche Veränderung des Lichts. Der purpurrote Himmel wurde zunächst hellbeige, bevor er sämtliche Grautöne bis zum Schwarz durchlief. Weiter oben in der Straße flogen Fackeln aus den Fenstern. Ein sengend heißer Wind pfiff zwischen den Schaufenstern und wehte den Geruch nach Katastrophen heran.
Zoé versagte die Stimme.
»Das Feuer ... kommt näher.«
77
Katakomben von Crozant,
Sondereinheit
Im Schein der Taschenlampe öffnete sich das Nichts vor Broissard. Er betrat den Stollen. Der Lauf der MR73 diente ihm als Kompass. Er beleuchtete die Zähne und die Kieferfragmente, die den Boden übersäten, und ging weiter.
Schmutzige Seile verliefen wie Ariadnefäden in der Dunkelheit. Er spitzte die Ohren. Wasser sickerte aus der Decke, und die Kalkabscheidungen bildeten ein Geflecht von schmalen Stalaktiten. Auf der rechten Seite war ein Teil des Stollens eingestürzt. Eisenbahnschwellen stützten das Gewölbe.
Gesichter entstiegen seinem Gedächtnis und nahmen unmittelbar Gestalt an.
Gérard Maurois als Kindermörder. Ein jämmerlicher Befehlsempfänger. Ein Helfershelfer im Sold eines Netzwerks. Ein Parasit.
Weitere Kostenlose Bücher