Die elfte Geißel
ohne Wurzeln zu schlagen, ohne Bindung, mit dem nachdrücklichen Gefühl, auf der Jagd nach sich selbst zu sein. Ein Mensch ohne Spiegelbild. Allerhöchstens ein Phantom. Er hätte sich gewünscht, dass es nicht mit diesem Bedauern endete. Dem Tode nahe, spürte er mit erschreckender Deutlichkeit die ganze Liebe, die er noch zu verschenken hatte.
Er sah noch einmal Tatianas Gesicht vor sich, als sähe er sie zum ersten Mal, und dankte ihr stumm.
73
Guéret,
Haus des Rechtsmediziners,
Sondereinheit
Hände packten ihn und zogen ihn gewaltsam an die Oberfläche.
Wie durch eine Nebelwand spürte Broissard, wie ein tiefer Atemzug seinen ganzen Körper durchflutete. Seine Rippen spreizten sich. Es war, als würde ein Pfahl in seine Brust gerammt. Eine Hand versetzte ihm einen harten Schlag – das in seinen Schläfen angestaute Blut konnte wieder frei fließen. Er beugte sich weit vor und erbrach ein Gemisch aus Galle, chloriertem Wasser und Blut. Eine zweite Ohrfeige ließ seine Halswirbel knacken und beruhigte ihn. Er riss die Augen weit auf, geblendet, und konnte sich kurzzeitig an nichts erinnern – er wusste weder, wo er war noch warum er dort war. Von einem weiteren Schwindel erfasst, sackte er zusammen. Eine nebelhafte Empfindung. Ein diffuser Schmerz. Nach und nach kam sein Körper wieder zu Kräften, wie aus einem Traum erwacht. Er sah das Gesicht von Musil, der sich über ihn beugte, und dahinter, in dem blutrot schimmernden Schwimmbecken, die erdolchte Frau, die wie eine Ophelia ohne Anmut im Wasser trieb.
Der Kommissar rubbelte ihn ab. Broissard massierte sich den Solarplexus, um die Blutzirkulation anzuregen. Er hatte gerade noch die Kraft, um zu fragen:
»Der Rechtsmediziner?«
»Er hatte mehr Glück als seine Frau. Der Notarzt kümmert sich um ihn. Aber er ist nicht ansprechbar.«
»Und der Täter?«
»Geflohen.«
Schrillende Sirenen durchbrachen die Stille. Blaulichter von Polizeiautos blinkten zwischen den Baumstämmen wie aufflatternde unglücksverheißende Vögel. Musil schob seinen Arm unter Alains Schulter und half ihm auf. Er überreichte ihm trockene Kleidungsstücke, die er dem Mediziner entwendet hatte.
»Beeilen Sie sich. Hier ist Ihr Handy, ich habe es im Wohnzimmer gefunden. Ich rufe Sie an, sobald ich mit den Polizisten fertig bin. Nehmen Sie mein Auto, ich komme schon zurecht!«
Broissard trat das Gaspedal durch, ohne zu wissen, wohin er fuhr.
Nach drei Kilometern verließen ihn die Kräfte, sodass er auf einem mit Radspuren übersäten Feld anhalten musste. Pferde galoppierten zwischen verrosteten Traktoren umher. An einer Straßenkreuzung stand eine steinerne Christusstatue. Die Figur, die sich am Kreuz vor Schmerzen wand, brachte ihm sein eigenes Leid ins Bewusstsein zurück.
Seine Schläfen hämmerten. Er konzentrierte sich auf einfache Gesten. Die des Abtrocknens. Des Sichumziehens. Das Blut, das an ihm klebte, entfernen. Seine Fassung zurückgewinnen. Er presste seine Finger auf die Heizung und spürte die Verbrennung nicht.
Die Erschöpfung setzte ihm schwer zu und weckte alte Dämonen. Krampfartige Zuckungen überfielen ihn. Er begann, die Nerven zu verlieren. Tränen stürzten ihm aus den Augen. Mit den Handgelenken schlug er fest gegen das Lenkrad. Die Hupe hallte in der menschenleeren Landschaft wider und jagte die Pferde in die Flucht.
Die Korruption, die Morde, die Vergewaltigungen, das Elend, die ganze Verkommenheit dieser Welt – er hatte diesen Kelch bis zur Neige geleert, in der Hoffnung, die Schandtaten der anderen würden seine eigene Schuld erträglicher machen. Da hatte er sich getäuscht.
Wie viele Kinder müsste er retten, um wiedergutzumachen, dass er sich nie um seinen eigenen Sohn gekümmert hatte?
Du darfst nicht schwach werden. Du darfst nicht schwach werden. Du darfst nicht schwach werden.
Ihm blieb nur eine Lösung. Sich dem zuzuwenden, was er schon immer getan hatte. Seiner Arbeit als Polizist.
Er presste die nötige Kraft, um weiterzumachen, aus sich und schüttelte den Schlafmangel und das letzte Frösteln von sich ab. Er klappte sein Handy auf. Eine neue Nachricht. Die panische Stimme von Carrère wirkte wie ein Elektroschock auf ihn. Heftig aufwallende gegensätzliche Emotionen verstärkten seine Migräne.
Das sind verdammte Monster.
Er düste los. Die voll aufgeblendeten Fernlichter huschten über den Asphalt. Der Tachometer schnellte steil nach oben, auf etwa 130 Stundenkilometer.
Kolbe hat euch keine Falle gestellt.
Die
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