Die elfte Geißel
verschwommen das Chaos und den Wahnsinn, der sich wie eine Pandemie um sie herum verbreitete. Das ohrenbetäubende Konzert von Sirenen und Gebrüll ließ den Schmerz in ihrem Kiefer wieder aufleben und entlockte ihr einen stummen Schrei. Sie riss die Augen weit auf, um die verklebten Wimpern zu lösen. Ihre erste klare optische Wahrnehmung war ihr Spiegelbild im Rückspiegel.
Ihre Augen waren blutunterlaufen, und ihre Wange war auf das Doppelte ihrer ursprünglichen Größe angeschwollen, eine bläulich-rote Beule. Der Backenknochen war angeknackst, eine tiefe Schnittwunde. Weiches Muskelfleisch hing wie eine Zunge aus der Wunde. Getrocknete Blutspritzer überzogen ihr Gesicht wie Sommersprossen.
Blandine rührte sich nicht und versuchte sich Klarheit über ihre Lage zu verschaffen. Ihre Handgelenke waren hinter ihrem Rücken stramm gefesselt. Sie schaute sich flüchtig um. Sie saß allein in dem geparkten Wagen, nur etwa dreißig Meter von der Place de l’Étoile entfernt. Der Zündschlüssel war verschwunden, die Drähte herausgerissen.
Würde Rilk zurückkommen, um sie umzubringen?
Die Avenue de Friedland war zum Schauplatz des Weltuntergangs geworden. Ausgebrannte Karosserien standen kreuz und quer auf der Fahrbahn.
Sie rollte sich zur Seite und verrenkte sich, um mit der Stirn gegen das Lenkrad zu drücken. Ein schwaches Hupen, das vom Lärm auf dem Platz verschluckt wurde. Sie versuchte sich zu beruhigen, aber kurze Momente der Angst jagten ihr einen kalten Schauder nach dem anderen über den Rücken. Sie zog die Beine an und wand sich auf ihrem Sitz, um ihre Arme unter ihr Gesäß zu schieben.
Die Schnüre schnitten in die Haut und die Adern ein. Sie schrie. Warmes Blut sprudelte auf ihre Hände. Ihre Bänder waren zum Zerreißen gespannt. Sie strengte sich noch etwas stärker an, vor Schmerz setzte der Schweißfluss aus. Die Fesseln zogen sich zusammen und kerbten sich in die Muskeln ein, als wären sie Butter. Nach der x-ten Verrenkung gelang es ihr, die Unterarme unter ihrem Po durchzuschieben.
Die Fahrgastkabine wackelte. Sie kämpfte gegen die drohende Bewusstlosigkeit an und versuchte, die Fesseln zu zerbeißen. Ihre Zähne rutschten an den Plastikbändern ab. Sie biss fester zu. Doch auch das brachte nicht den gewünschten Erfolg. Und dann erblickte sie ihn.
Seine Silhouette zeichnete sich hinter der Windschutzscheibe ab. ER. Blandine schrie aus vollem Hals. Zwischen den ausgebrannten Wracks, den Überresten der Raserei, näherte sich Jean-François Rilk.
In einem Anfall blinder Panik warf sie sich in alle Richtungen, um sich zu befreien. Sie bemerkte, wie der Schatten weniger als zehn Meter vom Wagen entfernt größer wurde. Ihr Blick fiel auf den Gegenstand in seiner Hand. Der Bär knipste das Feuerzeug an und entzündete den Fetzen, der aus dem Flaschenhals herausragte.
»Erbarmen! Nein! Nein!«
Der Molotow-Cocktail explodierte, und Flammenzungen tanzten wie Irrlichter auf der Motorhaube. In wenigen Sekunden verwandelte sich das Fahrzeug in eine Fackel. Die Temperatur im Inneren stieg jäh an. Dichter schwarzer Rauch umhüllte den Innenraum und drang durch die einen Spaltbreit geöffnete Heckscheibe. Blandine bekam keine Luft mehr.
Die Reifen platzten. Ein vierfacher Knall, überdeckt vom Knistern der Flammen und den verzweifelten Schreien der jungen Frau. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Mit hysterischer Wut zog sie an den Fesseln, die sie gefangen hielten. Doch sie konnte den Türgriff nicht erreichen.
Benzindämpfe vergifteten die Luft. Sie hustete, um die giftigen Gase, die ihr in den Bronchien brannten, auszustoßen. Sie begann zu fantasieren. Inmitten des Chaos ihrer inneren Bilder sah sie, wie alles enden würde.
Eine Gewissheit.
Sie würde sterben.
Die Rauchgase würden sie umbringen. Der Wagen würde explodieren und ihr Fleisch, ihre Knochen und ihr Blut ringsherum verstreuen. Alles würde in einer delikaten Vereinigung ihres Körpers mit dem Stahl des Fahrzeugs enden. Das Armaturenbrett würde ihr das Gesicht wegreißen. Die Leuchtzifferblätter würden ihre Wangen mit funkelnden Pailletten überziehen. Die Flammen würden die Körperflüssigkeiten, die unter ihrer Haut flossen, trocknen. Der Fötus in ihrem Bauch würde in der Hitze verdorren, durch das Feuer aus ihrem Bauch herausgetrieben und alles mit sich reißend, was noch von ihr, von Paul und den gemeinsamen Nächten übrig geblieben war.
Erbarmen.
Niemand würde einen Mord vermuten. Niemand könnte sie
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