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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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Abschaum.
    Der zweite, vorerst noch gesichtslose Mörder. Er konnte jederzeit auftauchen. Auch er war ein armer Schlucker. Ein gedungener Folterknecht, der die grausame Drecksarbeit erledigte. Das Blutbad, das er anrichtete, deutete darauf hin, dass es sich um einen Anfänger handelte. Zweifellos um den Nachfolger von Maurois.
    Vor dem Visier das Gesicht des Erzengels. Des Erben von Antonio Diaz. Des großen Drahtziehers. Des großen Mistkerls. Abschaum in Person. Der Schutzpatron des Lasters.
    Der Stollen, ein Resonanzboden seiner Einsamkeit, raubte ihm den klaren Verstand und stärkte seine Instinkte. Seine Gedanken prallten von den Wänden ab und wurden immer wirrer und unbändiger.
    Broissard dachte daran, dass Maxime vergeblich versucht hatte, das Böse an der Wurzel auszumerzen, und sich dabei selbst zugrunde gerichtet hatte. Dass er den gleichen Weg eingeschlagen hatte – ohne Bindung an moralische Werte und Normen – und auf einen Abgrund zusteuerte, aus dem es kein Entrinnen gäbe. Es war zu spät, um den versäumten Gelegenheiten nachzutrauern.
    Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich vollkommen frei.
    Die Wände verengten sich. Die Katakomben wirkten wie ein feuchter, düsterer Trichter. Er stieg eine Treppe hinab, geleitet von dem asthmatischen Surren eines Generators. Zugluft trug einen ranzigen, würzigen Geruch heran.
    Der Schlupfwinkel war ganz in der Nähe.
    Eine massive Holztür versperrte den Zugang zum hinteren Teil des Ganges. Aber das Schloss war nicht gepanzert. Er hatte Glück. Mit der Klinge seines Taschenmessers löste er die Stifte des Schlosses. Unter einem unheimlichen Quietschen ging die Tür auf.
    Broissard drang in einen Gang vor, dessen Wände mit gräulichen Flecken besprenkelt waren. Schimmel. Salpeter. Kaputte Rohre funkelten in dem orangefarbenen Lichtschein von Glühbirnen. Grüne Röhren überzogen die Decke wie die Fäden eines abgewetzten Gobelins. Er folgte den in der Zugluft baumelnden Hängelampen und ging weiter, ohne zurückzublicken auf das, was er hätte anders machen können, ohne in seinem Gedächtnis nach dem genauen Zeitpunkt zu suchen, als ihm sein Leben entglitten war.
    Unvermittelt hielt er inne, ihm war plötzlich speiübel, die Beine wie gefroren.
    In den Fels gehauene Nischen, die jedoch nicht einmal mannshoch waren. Rattenlöcher. In diesen dunklen Zellen lagen aufgerissene, stockfleckige Matratzen, zusammengeknüllte Leintücher und Decken. Nachttöpfe waren in einem Winkel aufgestapelt. Von Insekten wimmelnde Harnpfützen.
    Es war zu spät, um umzukehren. Er stand bereits am Rand des Abgrunds.
    Der Capitaine durchquerte das Chaos.
    In der Mitte eine Art Spielplatz des Grauens.
    Rutschen, verstreut herumliegende Spielsachen, Puppen und, an der Wand, Dutzende von Zeichnungen. Kinderhände hatten ein bunt zusammengewürfeltes, schauriges Fresko gemalt. Monströse Körper, Gesichter von Menschenfressern. Riesige rote Geschlechtsteile mit Fangzähnen, die Kinder verschlangen.
    Die Gewalt und die Hoffnungslosigkeit, die das Fresko ausstrahlte, schnürten ihm die Kehle zu.
    Links von ihm hörte er ein leises Geräusch. Wie ein Atemzug, der unterdrückt wird. Angst überkam ihn. Er überstrich die Zellen mit dem Lauf seines Revolvers.
    Eine Bewegung im Dunkeln. Stille.
    Broissard spannte seinen Finger am Abzug und ging einen Schritt nach vorne. Finsternis füllte den Hohlraum aus. Noch ein Schritt. Er umklammerte den Kolben des Revolvers so fest, dass seine Hand weiß anlief.
    »Kommen Sie heraus, oder ich ... ich schieße!«
    Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Langsam hob er die Taschenlampe.
    »O mein Gott, nein ...«
    Gefangen in dem Lichtkegel, blickte ihn ein nacktes, zum Skelett abgemagertes Mädchen aus Augen an, in denen panische Angst stand. Es kauerte sich im hintersten Winkel der Nische zusammen und fauchte wie ein in die Enge getriebenes Tier. Es starrte Broissard an und suchte nach einer Lücke, durch die es entschlüpfen könnte. Er kniete sich langsam hin und zog seine Jacke aus, um sie der Kleinen umzuhängen.
    »Hab keine Angst.«
    Er streckte die Hand aus. Ihre Arme und ihre Beine glichen krummen Spinnenbeinen. Ihre Wirbelsäule ragte hervor wie ein Bergkamm, ihre Haut war so durchscheinend, dass ihre blauen Adern ihren Oberkörper wie mit Sternen übersäten.
    »Ich bin hier, um dich zu retten! Verstehst du? Dich zu retten!«
    Das Mädchen starrte ihn an, ohne zu begreifen. Broissard spürte, dass er gleich schwach werden

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