Die elfte Geißel
Hindernisparcours, wich Fußtritten und Kniestößen aus und schlich blindlings weiter.
Eine neue Tränengaswolke legte sich über die Station. Rauchschwaden hingen über den Rolltreppen, bevor die Zugluft sie auf die Bahnsteige trieb. Menschen brachen zusammen und übergaben sich. Das Geschrei wurde immer lauter, die Menge begann wieder zu rennen. Sie kroch weiter und spürte, wie die Bedrohung überall um sie herum wuchs.
Jetzt war ER nur noch zehn Meter von ihr entfernt.
Nur noch ein paar Sätze bis zu seiner Beute.
Blandines Hand griff ins Leere. Die Schienen unter ihr. Zu spät, um zurückzuweichen. In ihrem Rücken ein wütendes Gewimmel. Vor ihr ein Gewirr von Gängen. Ihr einziger Ausweg.
Mit dem bedrückenden Gedanken, dass ihr das gleiche Schicksal wie Amandine drohte, sprang sie auf die Bahnschwellen. Sie lief geradeaus. Sie schlitterte und strauchelte, bis der Schlund eines Tunnels sie verschluckte.
Sie hörte deutlich, dass ER ebenfalls aufs Gleisbett gesprungen war und ihr nachsetzte.
79
Paris,
Cybercafé,
Sondereinheit/OCLCTIC
»Wir müssen hier raus! Das Feuer ist ganz nah!«
»Ich kann nicht!«, schrie er.
Léopold hatte das schmerzliche Gefühl, von einem Malstrom mitgerissen zu werden, in dem sich zwei Strömungen vereinigten: Gräueltaten in der virtuellen Realität und die sozialen Unruhen im realen Frankreich. Er hatte soeben eine Welt der tiefsten Verzweiflung betreten, ein Cyber-Sodom, in dem buchstäblich alles erlaubt war.
Kinder. Hunderte von Kindern jeden Alters, aller Hautfarben. Ein Sklavenmarkt. Und überall Fotos, Filme. Minderjährige Prostituierte beiderlei Geschlechts in Kambodscha, in Indonesien, Angola, im Senegal, in der Elfenbeinküste und in der Ukraine. Kleine Jungen in den Favelas von Rio, Mexico City und Buenos Aires. Sexorgien mit jungen Schwarzen auf einem Crack-Trip. Sexuelle Ausbeutung von Elend und Not. Nacktes Fleisch, Sperma und Schreie. Ein Panorama des Lasters. Der Schandfleck einer verrottenden Gesellschaft. Eine verborgene Welt, die für die klassischen Suchmaschinen unzugänglich war. Keine Meldezettel. Keine Spur von einer Person, die die Missbrauchsopfer beherbergte. Eine Phantom-Website unter den Hundert Millionen »real« existierender Sites.
Ihre Wut wich einer tiefen Niedergeschlagenheit.
»Ich habe so etwas noch nie gesehen. Ich kenne kein Protokoll für Webseiten dieser Art.«
»Jedes System hat eine Schwachstelle.«
Léo ließ die Liste der verfügbaren Filme im Schnelldurchlauf abspielen. Die Eintönigkeit der Bilder ermüdete ihn. Immer wieder wurde das gewaltsame Eindringen in Scheide, After oder Mund in Großaufnahme gezeigt. Sein Gehirn speicherte die visuellen Informationen mechanisch ab.
Aber die Hitze beeinträchtigte seine Konzentrationsfähigkeit und sein Aufnahmevermögen. Er knöpfte sein Hemd auf. Es wurde immer heißer.
Seine Stimme war kraftlos. Die Worte kamen ihm wie von selbst über die Lippen.
»Wir wissen, dass Amandine die Filme von dieser Website heruntergeladen hat. Wenn wir die Links zurückverfolgen können, gelingt es uns vielleicht, den Rechner aufzuspüren, auf dem sie gespeichert sind.«
Er hörte nicht die zustimmende Äußerung von Zoé. Er hörte gar nichts mehr.
Er war taub für die Brandgeräusche.
Taub für das Rattern der Computer.
Taub für das Brodeln in sich.
Diese Webseite war nur eine Fassade. Was eigentlich zählte, befand sich hinter den Bildern, hinter den Algorithmen und den Codes. Man musste die Spur bis zum Ursprungsrechner zurückverfolgen, demjenigen, auf dem die Daten gespeichert waren, komprimiert wurden, von wo aus sie jemand ins Netz gestellt hatte. Léopold zügelte das Tempo seiner Gedanken und bereitete seinen Angriff vor.
Der Zielrechner war als virtuelle Festung mit digitaler Architektur gestaltet, die jeden Eindringversuch abwehren sollte. Firewalls. Zugbrücken, die den binären Datenstrom unterbrechen können. Und im Bergfried, im Zentrum des Systems, eine Blackbox, die es erlaubte, herauszufinden, wo sich dieser Rechner befand. Genau das wollte Léo wissen. Die Ziffern der Wanduhr hinter ihm spiegelten sich auf der Bildschirmoberfläche und überlagerten sich mit den Ziffern, die in Spalten über den Bildschirm liefen.
Er lud ein Malware-Programm, das er auf die Schnelle bei einem Forum aufgetrieben hatte, auf einen Computer. Es handelte sich um eine minderwertige Software, ein Abfallprodukt, das sich leicht modifizieren ließ, um daraus eine Waffe zu schmieden, die
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