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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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auf. Eine Faustschlag aufs Auge, und er sah nur noch Sternchen. Er wischte sich die Tränen ab, während er seinen Revolver auf die Stelle richtete, von wo der Knall gekommen war.
    » Lass dich von der Musik leiten. «
    Er schoss das Magazin leer, ohne das Ziel zu sehen.
    Durch den Staub kroch Broissard, dessen Auge weiterhin tränte, zu dem leblos daliegenden Körper. Der von den Kugeln wie gekreuzigte Mann lag ausgestreckt da. Die klauenartig gekrümmten Finger schienen noch immer im Boden zu scharren.
    Er betrachtete das aufgedunsene Gesicht – eine Maske aus Blut und Lehm. Der obere Teil der Schädelkalotte war weggeschossen, und Haarbüschel flatterten sanft in der Zugluft. Ein junger Mann von kaum zwanzig Jahren. In etwa das Alter meines Sohnes, dachte er.
    Alain stützte sich auf den Lauf seines Revolvers und schleppte sich zu dem Mädchen. Er umarmte es fest, wobei er die Schluchzer und die Tränen unterdrückte. Er schwor sich, diesen Augenblick niemals zu vergessen.
    »Hör mir gut zu, ich lass dir diese Lampe und meine Uhr. Wenn ich nicht zurück bin, wenn der große Zeiger auf der Zwölf steht, musst du so schnell laufen, wie du kannst. Am Ausgang erwartet dich jemand.«
    Er entwand dem Toten das Gewehr und durchsuchte dessen Taschen. Sechs Patronen. Am Eingang eines langen Ganges lud er das Gewehr nach. Seine zerschmetterte Schulter blutete stark. Es bliebe ihm wohl gerade genug Zeit, um seine Arbeit zu Ende zu führen, bevor er verblutete. Die Kälte, diese schreckliche, arktische Kälte, die für ihn schon so lange wie ein Freund war, forderte ihn zu einem weiteren Ausflug ans Ende der Welt auf, einer Reise, auf sich allein gestellt, ins Herz der Finsternis. Alles verdüsterte sich in seinen Gedanken. Er betrachtete seine Hände.
    Blut auf der Glückslinie.
    Blut auf der Herzlinie.
    Blut auf der Lebenslinie.
    Mit dem Fuß trat er die letzte Höllenpforte ein.

81
Paris,
Untergeschoss der Metro,
Mordkommission
    Irgendein Streckenabschnitt. Ein Gewirr von Gleisen. Ihr Gesichtsfeld glich dem einer Handkamera. Um sie herum Graffiti und Dreck. Darüber Geräusche der Stadt, Geschrei der Menge. Krämpfe bei jedem Schritt. Schenkel, Waden, der Schollenmuskel, der große Oberschenkelanzieher. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Muskeln förmlich verbrannten. Sie spürte sie nicht mehr, nur noch den Schmerz, allein der Selbsterhaltungsinstinkt hielt sie aufrecht.
    Wenn du stehen bleibst, bist du tot.
    ER war noch immer hinter ihr. Sie spürte seine Anwesenheit, seine Bedrohung, unmittelbar hinter sich, in ihrem Rücken. Sie wusste, dass er ihr jeden Moment eine Kugel zwischen die Schulterblätter jagen konnte.
    In der Ferne ratterte ein U-Bahn-Zug.
    Sie riss die Augen weit auf. Das Ungetüm aus Eisen raste mit siebzig Stundenkilometern dahin und verschlang alles, was ihm in den Weg kam. Sie warf sich gegen die Wand, die zwei Tunnels voneinander trennte. Scheinwerfer zitterten in der Kurve und tauchten den Raum in ein gleißend helles Licht. Weiß auf weiß. Geblendet, torkelte sie.
    Ein starker Schwindel überfiel sie. Die Waggons schossen nur ein paar Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt dahin. Ihre Fingernägel bohrten sich in die Wand. Schatten, unheimliche Fratzen hinter den Scheiben. Sie klammerte sich fest, um dem Erdbeben standzuhalten.
    Der letzte Waggon raste vorbei. Sie ließ los. Sie hatte weiche Knie. Atemlos stürzte sie sich in den letzten geraden Streckenabschnitt und erreichte die Haltestelle. Sie kletterte auf den Bahnsteig und holte tief Luft, um das Feuer in ihren Lungen zu löschen.
    Die Station George-V war lichtdurchflutet. Sie ließ den Blick über die Leute schweifen, die alsbald Zeugen ihres Todes würden. Obdachlose und Jugendliche, die mit Brecheisen Getränkeautomaten zerlegten und alles plünderten, was nicht niet- und nagelfest war. Die Randalierer setzten Mülleimer in Brand und warfen sie in einem Funkenregen auf die Gleise. Am Ende der Station demonstierte eine Gruppe von Studenten die Überwachungskameras, einer von ihnen schwenkte eine schwarze Fahne mit dem Emblem der Anarchie, einem eingekreisten A.
    A.
    Der Anfangsbuchstabe von Amandine.
    Der Anfangsbuchstabe von Alice.
    Zwei Vornamen, die miteinander verschmolzen. Als sie den roten Kreis sah, musste sie an ihren blutigen Weg durch die Unterwelt von Paris denken. Ein Weg, der hier, über den Schienen, endete. Der Kreis schloss sich.
    Die körperliche Erschöpfung raubte ihr den Verstand. Völlig aufgewühlt, stürzte sie zu

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