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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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dass nur kinderlose Junggesellen in sein Team aufgenommen würden. Zum anderen wegen der gehässigen Sticheleien zwischen den einzelnen Dienststellen, wenn es um das Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern und die Geständnisse von Kinderschändern ging.
    Léo spürte die spöttischen Blicke in seinem Rücken. Dabei hatte er anfangs versucht, sich einzuordnen. Aber während die anderen Geschichten von Säufern erzählten, die sich gegenseitig verprügelten, von Rauschgiftschmugglern, die sich ungewollt eine Überdosis verpassten, weil die Magensäure das Packmaterial der verschluckten Beutel zersetzte, konnte er keine Anekdoten beisteuern. Er musste den Mund halten, wohingegen die anderen sich mit düsteren Geschichten gegenseitig überboten. Er kannte natürlich Witze über Pädophile, doch der Sinn stand ihm nicht danach.
    Im obersten Stockwerk des Gebäudes nahm er die Hintertreppe, um ins Dachgeschoss zu gelangen. Er fühlte sich in dem riesigen Zimmer mit Hängeboden und niedriger Decke wie bei sich zu Hause. Kleine Fenster liefen den Loft entlang; das flach einfallende Licht fiel auf ein Gewirr aus Computern, Netzwerkgeräten und Kabeln.
    Er öffnete einen Umschlag, der mit »DRINGEND« gestempelt war. Broissard hatte sich beeilt. Vorläufiger Bericht, ausführliche Analyse und Beweisstücke. Er steckte den USB-Stick mit der Aufschrift »Havre. DVD« in den Computer, atmete tief ein und öffnete die Audio-Datei.
    »Erster Bericht. Montag, 28. November, 21.12 Uhr, Laderaum des Containerschiffs Dolly Belly. Betr.: DVD mit Kinderpornografie.«
    Vorsichtig legte Léo eine DVD unter das Lichtmikroskop und drehte so lange an den Linsen, bis der Code klar und deutlich zu lesen war. Im Hintergrund begann Broissard mit seiner mechanischen, methodischen Stimme die Schandtaten zu schildern, die Opfer und die Täter zu beschreiben, wobei er die tiefe Verzweiflung und Not einer Welt der Verderbnis auf Details und Näherungen reduzierte.
    Léo brummte der Schädel. Er drohte in eiskalten Wellen zu versinken. Es handelte sich nicht um eine DVD, die mit den an Bord verfügbaren Mitteln aufgenommen worden war. Die Laser-Gravierung war perfekt. Er drehte die Scheibe auf der Suche nach dem Zonenanzeiger, der es den Herausgebern der DVD erlaubte, in jeder Region der Erde die Kontrolle über die Preise zu behalten. Zone 0. Diese DVD war mit allen Lesegeräten kompatibel und mit einem Kopierschutz versehen, der die Übertragung der gespeicherten Daten auf einen Rechner verhinderte.
    Warum ein solches Bemühen um Qualität? Vor allem in Europa, wo kinderpornografische Videos auch von Amateuren aufgenommen wurden. Die meisten Netzwerke in Frankreich bestanden aus Familien oder Perversen, die verschworene kleine Gemeinschaften bildeten. Schnell gedrehte, billige Schundfilme. Geld spielte keine große Rolle. Verglichen mit dem Umsatz mit Kinderpornografie in den Vereinigten Staaten – fast zwei Milliarden Dollar pro Jahr –, waren das Peanuts.
    Er dachte an die Möglichkeit, dass der Film in Deutschland gedreht worden war, wofür die Flagge des Frachters sprach. Aufgrund seiner geografischen Lage und der gesetzlichen Regelung der Prostitution kamen viele minderjährige Prostituierte, die nur auf dem Papier volljährig waren, nach Deutschland. Und was die Pornografie-Branche anbelangte, schätzte die deutsche Polizei, dass 130000 Kinder dazu gezwungen wurden, in Pornofilmen mitzuwirken – das entspricht der Einwohnerzahl einer ganzen Stadt.
    Er rief bei der Botschaft an, nahm mit dem Fachkommissariat zur Bekämpfung der Pädokriminalität in Berlin Kontakt auf, aber Fehlanzeige. Niemand hatte von einem solchen Film gehört.
    Das Schlimmste stand ihm noch bevor.
    Wie viele derartige Filme hatte er sich in den letzten fünf Jahren angesehen? Hundert? Zweihundert? Er wusste es nicht mehr. Er wollte es nicht wissen. Wie immer zögerte er, gepackt von der Lust, das Weite zu suchen, sein Leben ganz von vorn zu beginnen, in der Amnesie die Kraft zu finden, sich neu zu erfinden. Er wollte vergessen, was er mit eigenen Augen gesehen hatte – die Rückstände des Grauens, die sein Gedächtnis vergifteten. Einfach vergessen. Aber wenn er aufgab, wer würde dann seinen Platz einnehmen?
    Du darfst nicht schwach werden.
    Das, was er durchmachte, war nichts im Vergleich zu dem, was diese Kinder erlitten. Gar nichts im Vergleich dazu. Er beschloss, auf die Taste LESEN zu drücken, und die ersten Bilder flimmerten in rascher Folge über

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