Die elfte Geißel
bin allein ... damit meine ich, dass ich allein arbeite«, erklärte er und schloss die Tür hinter ihr.
An ihrem Schreibtisch sitzend, überflog Zoé Hermon den Bericht über die Spuren, die Léopold als die vielversprechendsten betrachtete, während sie noch erbost darüber war, dass sie von ihm wie der letzte Dreck behandelt worden war. Gewiss, Apolline stand in dem Ruf, ein ausgezeichneter Polizist zu sein, aber das änderte nichts daran, dass er genauso bescheuert und rüpelhaft wie die meisten war, sagte sie sich.
Sie stellte ihren iPod lauter, und der dritte Zug an ihrer Zigarette beruhigte sie. Sie verübelte es sich vor allem, klein beigegeben zu haben. Das war ihr zum ersten Mal passiert. Trotz ihrer sechsundzwanzig Jahre kannte sie die Männer in- und auswendig. Doch dieser Mann war anders, eine explosive, labile Mischung, der man sich vorsichtig nähern musste. Durch ihr allzu forsches Auftreten war ihr ein typischer Anfängerfehler unterlaufen, einer dieser Fehler, die ihr zu der Zeit, als sie beim Kampfmittelräumdienst des Zivilschutzes gearbeitet hatte, einen zweimonatigen Krankenhausaufenthalt eingetragen hatten.
»Zoé, wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass in unseren Räumlichkeiten Rauchen verboten ist?«
Zoé Hermon lächelte, setzte den Kopfhörer ab und hielt ihrer Vorgesetzten die Schachtel hin.
»Möchten Sie eine, Frau Kommissarin? Schlechter Tag?«
»Gelinde gesagt. Diese Sitzungen wegen der Reformen nehmen kein Ende.«
Die Kommissarin schloss die Tür hinter sich und zündete sich eine Zigarette an, während sie sich setzte.
»Unser Minister ist wegen der Ausschreitungen in Panik. Der Präsident und auch die Gewerkschaften setzen ihn unter Druck. Er weiß nicht mehr, was er noch tun soll! Aus heiterem Himmel gefriert er die Gelder für die Umstrukturierung der Brigaden ein, und am nächsten Tag soll das Ganze in drei Monaten über die Bühne gebracht sein! Zu allem Überfluss ist mein Nesthäkchen ans Bett gefesselt, und ich weiß nicht einmal, wann ich heute Abend nach Hause komme«, seufzte sie. »Und Sie? Haben Sie Lieutenant Léopold Apolline kennengelernt?«
»Kann man wohl sagen. Ich sehe gerade die Dokumente durch, die er mir angedreht hat.«
»Was haben Sie für einen Eindruck?«
»Die Unterlagen sprechen eine klare Sprache.«
»Und wie finden Sie ihn als Person?«
»Ein bisschen schwierig. Er misstraut uns. Er hat mich ziemlich kühl abblitzen lassen.«
»Genau das habe ich befürchtet«, sagte sie, ihre Zigarette ausdrückend. »Maxime Kolbe hat alles getan, um die Sondereinheit vom Rest der Polizei zu isolieren. Es ist verrückt, stellen Sie sich vor, dass zehn Jahre lang niemand einen Blick in ihre Akten geworfen hat. Nicht eine Überprüfung, nichts!«
»Und da Léopold Apolline von diesem Maxime Kolbe ausgebildet wurde, ist er natürlich genauso misstrauisch?«
»Ganz genau!«
»Kann man ihn disziplinarisch nicht unter Druck setzen?«
»Nein, solange die Justiz im Fall Kolbe kein Urteil gefällt hat, sind uns die Hände gebunden.«
9
Paris,
Räumlichkeiten des Dezernats für
interne Ermittlungen
»Wir haben die Schnauze voll von deinem Blödsinn, Broissard!«
Der Kommissar des Dezernats für interne Ermittlungen, ein korpulenter Mann in den Vierzigern, ein richtiger Bürohengst, der Karriere gemacht hatte, weil er sich bei seinen Vorgesetzten eingeschmeichelt hatte, wuselte um den Vernehmungstisch herum. Mit dem Ärmelaufschlag wischte er sich den Hals ab, wo von schwabbelnden Hautlappen ein erstickender Geruch nach Moschus und Eau de Cologne aufstieg.
»Weshalb bist du so stur? Du weißt, dass man dich fristlos feuern wird.«
Broissard spürte einen Knoten zwischen seinen Schulterblättern. Der am Boden festgeschraubte Stuhl hinderte ihn daran, es sich bequem zu machen. Die feuchte Atmosphäre im Zimmer, das eintönige Grau der Wände raubten ihm den Atem.
Wie lange müsste er sich das noch gefallen lassen?
Seit einer Stunde war er in eine der zahlreichen fensterlosen Buden in den Räumlichkeiten des Dezernats für interne Ermittlungen eingesperrt. Die internen Ermittler hatten ihn mit einer einfachen Absicht vorgeladen: Sie wollten ihn dazu bringen, Maxime zu verpfeifen. Bis jetzt hatte er ihrem Druck widerstanden, doch die Müdigkeit machte ihm zu schaffen. Er hatte auf einen Anwalt verzichtet, in dem festen Glauben, ihnen Paroli bieten zu können, aber jetzt begann er es bitter zu bereuen.
»Fangen wir von vorn an? Kommissar Kolbe und du,
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