Die elfte Geißel
etwas, das ich nicht ganz verstehe. Weshalb ermittelt die Mordkommission über den Unfall von heute Morgen? Ist das nicht Sache des Verkehrsdezernats?«
Sie witterte die Falle in der Frage und gab selbstsicher zurück:
»Das Verkehrsdezernat wird der Ausschreitungen nicht mehr Herr.«
»Das erklärt nicht, warum Sie sich diese Filme ansehen wollen. Der Staatsanwalt hat mir mitgeteilt, dass das Verfahren am frühen Nachmittag eingestellt wurde, oder stimmt das nicht?«
»Wir sind nicht sicher, ob es sich wirklich um einen Selbstmord handelt.« Sie bewegte sich auf Glatteis, sagte sie sich.
»Kein Selbstmord, haben Sie gesagt?«
»Wir sind uns nicht sicher.«
»Sie vermuten also, dass es sich entweder um einen Unfall handelt oder dass jemand die beiden jungen Mädchen gestoßen hat? Aber wieso ist der Staatsanwalt dann so schnell zu dem Ergebnis gekommen, es handele sich um Selbstmord?«
Blandine lächelte den alten Mann höflich an und antwortete mit der notwendigen Bestimmtheit, damit er endlich ging.
»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, doch ich will Sie nicht länger aufhalten.«
Als sie allein war, wählte sie die Aufzeichnungen der drei Kameras der Station Porte des Lilas zwischen sechs und sieben Uhr morgens aus. Drei verschiedene Aufnahmewinkel: Die erste Kamera erfasst den Eingang der Station, die Schalter und den Passbildautomaten. Die zweite und die dritte Kamera erfassen die Bahnsteige der Linien 11 und 3a. Blandine startete die Videoaufzeichnungen von dem Suizid und verfolgte dabei aufmerksam die Zeitanzeige.
Um 6.24 Uhr kamen die beiden Mädchen ins Sehfeld der Kamera: Sie hielten sich bei der Hand und setzten sich auf eine Bank. Sie kamen aus dem rechten Gang heraus, was bedeutete, dass sie nicht von der Linie 3a, sondern vom Eingang der Station kamen. Um 6.26 Uhr hielt eine Metro, und eine Schar von Fahrgästen – eine wimmelnde Menschenmenge – strömte auf den Bahnsteig. Blandine kniff die Augen zusammen, um die Gesichter zu erkennen, die sich voneinander abzuheben begannen und auf das Objektiv zueilten. Die beiden jungen Mädchen rührten sich nicht und ließen die U-Bahn vorbeifahren. Um 6.30 Uhr strömte eine neue Gruppe von Fahrgästen, die von der Linie 3a kamen, auf den Bahnsteig. Und jetzt ging alles sehr schnell. Die beiden Mädchen mischten sich unversehens unter die Menge und näherten sich dem Gleis. Um 6.31 Uhr stürzten sie in den Graben. Die Metro überfuhr sie unter den entsetzten Mienen der Passagiere. Wenige Sekunden später sah Blandine, wie Kommissar Rilk auf die Gleise sprang und versuchte, die ältere der beiden durch Herzmassage zu reanimieren. Um 6.36 Uhr gab er auf.
Die Lieutenante hielt den Film an und schaute sich die letzten beiden Minuten noch einmal in Zeitlupe an, wobei sie sich bemühte, noch auf das kleinste Detail zu achten. Die Bildqualität war schlecht, aber nicht so schlecht, dass man den Unfallhergang nicht erkannt hätte. Die am Ort des Vorfalls aufgenommenen Zeugenaussagen deckten sich mit dem aufgezeichneten Geschehensablauf. Ende.
Um auf Nummer sicher zu gehen, sah sich Blandine noch das Video der Kamera an, die auf den Eingang der Station gerichtet war. Die Eisengitter wurden kurz nach 6 Uhr aufgezogen. Es vergingen ungefähr zehn Minuten, ehe die beiden Mädchen die Treppe herunterkamen – das waren also etwa zwanzig Minuten vor ihrem Tod. Die beiden Gestalten gingen zum Passbildautomaten und lehnten sich bis 6.20 Uhr an die Wand, dann passierten sie die Sperren und schlenderten in Richtung des Bahnsteigs der Linie 11.
Warum hatten sie so lange gewartet, ehe sie zum Bahnsteig hinuntergingen? Hatten sie im letzten Moment gezögert?
Die herangezoomten, durch die grobkörnige Pixelung entstellten Gesichter wirkten ausdruckslos, nichts deutete auf das unmittelbar bevorstehende Drama hin, bei dem Körper und Metall, Knochen und Glas aufeinanderprallen würden, als ob die Choreografie dieser letzten Augenblicke weder Gefühl noch Angst erforderte. Aber irgendetwas stimmte nicht, spürte die Lieutenante, als sie zum fünften Mal die jungen Mädchen in der Nähe des Passbildautomaten betrachtete. Der Vorhang der Kabine war zugezogen und schwankte leicht, es war ein kaum merkliches Bauschen des Stoffes zu erkennen. Sie stoppte die Wiedergabe auf diesem Bild. Ihre Hände waren feucht, und ihr Herz schlug immer schneller.
»Das gibt’s nicht ...«, flüsterte sie, während sie sich ganz nah an den Bildschirm beugte.
Der Vorhang des
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