Die elfte Geißel
so junges Mädchen mit sich in den Tod zu reißen.«
»Sie haben vielleicht gar nicht Selbstmord begangen.«
»Stimmt, womöglich hat sie jemand gestoßen. Das wäre eine plausible Erklärung für die Tatsache, dass sie auf dem Rücken liegend gefunden wurden.«
»Könnte diese Hypothese durch eine Obduktion bewiesen werden?«
»Schwer zu sagen. Das wäre so, als wollte man beweisen, dass ein Verkehrsunfall nicht unabsichtlich geschehen ist.«
Der Arzt bemerkte Blandines Enttäuschung, und so zögerte er, ehe er fortfuhr:
»Ich weiß, dass Sie keine meiner Abendvorlesungen versäumt haben, Lieutenante. Das ist ein schöner Beweis für Beharrlichkeit und persönlichen Einsatz. Würde es Sie reizen, als Anerkennung für Ihr vorbildliches Verhalten einer kleinen Privatvorlesung beizuwohnen?«
»Es wäre mir eine Ehre, Herr Professor.«
»Aber ich glaube nicht, dass ich Ihre Frage beantworten kann.«
»Ich werde mich mit dem begnügen, was uns diese Körper sagen.«
»Dann reichen Sie mir bitte die Skalpelle!«
Der Rechtsmediziner legte die beiden Leichen nebeneinander. Er vermaß sie und kritzelte etwas auf einen Notizblock. Blandine hielt ihren Atem an, um den Professor nicht in seiner Konzentration zu stören; sie lauschte aufmerksam dem Monolog, in dem er seine Beobachtungen darlegte.
»Diese da muss zwischen zwölf und vierzehn Jahre alt sein. Stadium IV in der Tanner-Tabelle. Man erkennt auf den Brustknospen deutlich eine anteriore Projektion des Warzenhofs und der Brustwarze, die einen zweiten Höcker bildet. Unter der Ferse findet sich eine leicht entzündete Stelle. Zweifellos ein Insektenstich.«
Er deutete auf das zweite Mädchen.
»Dieses Mädchen ist bereits behaart wie eine erwachsene Frau, und der vorstehende Warzenhof hat sich zurückgebildet. Ich würde sagen, dass sie zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Jahren alt ist.«
»Könnten sie Schwestern sein?«
»Ohne DNA-Test lässt sich das nicht feststellen, und solange der Fall abgeschlossen ist, darf ich einen solchen Test nicht vornehmen.«
Blandine beobachtete ihn, wie er die beiden Brustkörbe Y-förmig aufschnitt, fasziniert von der Trance, in die der Arzt verfallen zu sein schien. Noch der kleinste seiner Skalpell-Schnitte folgte einem logischen Plan, einer zwanghaften Suche in dem Leib, wie in einem Rennen gegen die Verwesung und den unwiederbringlichen Verlust von Indizien. Als er seine Hände in den Bauch des ersten Mädchens steckte, hatte sie das Gefühl, er dringe in ihren eigenen ein. Ein diffuser Schmerz strahlte von ihrem Nabel aus. Stéphane Firsh entnahm die Milz, die Bauchspeicheldrüse und verfolgte die Venen mit den Augen bis zum Herzen.
»Ohne mich allzu weit vorzuwagen, kann ich Ihnen sagen, dass die beiden, wenn sie Schwestern sind, wahrscheinlich nicht denselben Vater haben. Sehen Sie die Blutklümpchen der jüngeren?«, fragte er, die Herzkammern auseinanderbiegend. »Sie sind noch nicht alle geronnen, was auf eine erbliche Hämophilie vom Typ A oder ein Willebrand-Jürgens-Syndrom hindeutet. Aber ohne Analyse lässt sich das nicht feststellen. Eine solche Hämophilie ist bei Frauen allerdings äußerst selten, und sie wird außerdem von väterlicher Seite vererbt. Die Ältere weist nichts Vergleichbares auf, was meines Erachtens ausschließt, dass sie denselben Erzeuger haben.«
Er führte ein Spekulum in die Vagina ein und untersuchte die Scheidewand und den Gebärmutterhals.
»Es gibt Verletzungen in der Gebärmutter. In Anbetracht ihres Alters würde ich auf die Folgen einer Abtreibung tippen.«
Ein Hüsteln im Saal unterbrach den Rechtsmediziner.Blandine schreckte zusammen und kreuzte den Blick eines Mannes, der am Eingang im Halbdunkeln stand. Der Arzt bedeutete ihm mit der Hand, sich zu gedulden.
»Entschuldigen Sie, doch ich will Sie nicht länger aufhalten. Es tut mir aufrichtig leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann«, sagte er zu Blandine.
Sie bedankte sich bei ihm, und als sie wegging, dachte sie, dass sie an einem Tag wirklich mehr als genug herausgefunden hatte. Hoffentlich würden die nächsten Tage genauso ergiebig sein.
12
Paris,
Institut für Rechtsmedizin,
Sondereinheit
Als er die Flure des Instituts für Rechtsmedizin durchschritt, fühlte sich Léo benommen, ihm wurde abwechselnd heiß und kalt, und er hatte das Gefühl, durch ein flaches Meer aus Baumwolle zu waten.
Die unerwartete Ankunft von Zoé Hermon hatte ihn nachdenklich zurückgelassen. Ganz offensichtlich wollte ihn
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