Die elfte Geißel
angeeignet.
Sie ging durch die Flure des Leichenschauhauses zu den Sektionsräumen. Zu dieser späten Stunde war es hier noch stiller als sonst. Sie betrat den menschenleeren Untersuchungssaal. Gestalten in weißen Schutzhüllen lagen auf Metalltischen, die in gerader Linie hintereinander angeordnet waren. Blandine ging die in Leichentücher eingewickelten Körper entlang und überprüfte die Etiketten an den Zippverschlüssen.
Amtliches Siegel der Polizei. Nr. A234. Todesursache: innere Blutungen. Nr. A235. Todesursache: Ertrinken. Nr. A236. Todesursache: elektrischer Schlag.
Schließlich fand sie, was sie suchte.
Nr. A237/A238. Unfalltod.
Ein Karton stand am Fuß einer Liege, auf der die beiden jungen Mädchen aus der Metro lagen. Darin: blutverschmierte Kleidung, ein unechter Ring, silbernes Gliederarmband, die Jeanstaschen waren leer. Sie durchsuchte eine billige Handtasche und fand einen Schlüsselbund, in den eine Adresse eingraviert war – eine Vorsichtsmaßnahme, die ihr jetzt sehr zugutekam.
Apartment Nr. 6. Rue Limé 27a.
Nicht weit von Jussieu entfernt. Der Nummernzusatz »a« deutete auf ein Dienstgebäude hin. Eine Dienstbotenkammer oder ein Studentenwohnheim. Blandine zögerte, den kunststoffbeschichteten Leichensack zu öffnen, und wollte gerade die Hand ansetzen, als eine ihr wohlbekannte Stimme fragte:
»Suchen Sie jemanden, Lieutenante Pothin?«
Blandine drehte sich lächelnd zum Chef des Instituts für Rechtsmedizin um.
»Guten Abend, Herr Professor. Ich hätte nicht erwartet, Sie so spät hier anzutreffen.«
»Wissen Sie, in meinem Beruf gibt es keine festen Arbeitszeiten. ›Die Schicht des Schlachters‹, wie Lieberman schrieb, ist ein endloser Kreislauf.«
Stéphane Firsh drückte höflich Blandines Hand.
»Darf ich Sie noch einmal fragen, was Sie hier tun?«, sagte er lächelnd.
»Ich ermittle in der Todessache der beiden Mädchen, die heute Morgen in der Metro ums Leben gekommen sind.«
Sie spürte, dass ihr diese Lüge die Wangen rötete. Sie sah, dass der Rechtsmediziner sie weiterhin anstarrte, und so stammelte sie:
»Ich weiß nicht genau, wonach ich suche. Ich habe mich gefragt, ob sie nicht zufälligerweise irgendein Kennzeichen tragen, das zu ihrer Identifikation führen könnte.«
Stéphane Firsh trat an die eingehüllten Körper heran, nahm den Bericht, der neben ihnen lag, in die Hand und las mit lauter Stimme:
»›Ermittlungen abgeschlossen. Unfalltod im öffentlichen Nahverkehr. Todeszeitpunkt: 6.30 Uhr. Zwei Personen weiblichen Geschlechts rücklings auf den Schienen liegend gefunden. Todesursache: Genickbruch bei der einen. Vielfältige Verletzungen, Riss der Aorta und der Luftröhre bei der anderen. Keine Obduktion angeordnet.‹«
Er schob die sterblichen Überreste auf den Sektionstisch.
»Wenn einer meiner Assistenzärzte eine Leiche obduziert, soll ich überprüfen, ob er Fehler gemacht hat. Der Fall scheint Ihnen am Herzen zu liegen. Wo Sie schon mal da sind ...«
Blandine zuckte beim Anblick der beiden Köpfe zusammen. Als sie die blonden Haare auf dem glänzenden Metall des Tisches sah, rief ihr dies die reglosen Gesichter, die auf den Gleisen lagen, in Erinnerung. Die Spuren des Aufpralls an dem Waggon. Das eingedrückte Blech. Das Blut. Sie griff nach einem Döschen mit Mentholsalbe und schmierte sich ein wenig davon an die Nasenlöcher. Der stechende Geruch beruhigte sie.
»Über die Leichen gibt es nicht viel zu sagen. Wie schon aus dem Bericht meines Kollegen hervorgeht, trat der Tod unmittelbar nach dem Aufprall ein.«
»Worauf ist dieses Mal hier zurückzuführen?«, fragte sie, auf einen schwarzroten Striemen zeigend, der von der Schulter bis zur Hüfte einer der Leichen lief.
»Es handelt sich um eine Verbrennung zweiten Grades. Diese Schnittwunden da wurden durch die Hitze kauterisiert. Die Temperatur des Gleises dürfte in Verbindung mit der Geschwindigkeit diese Spur hinterlassen haben.«
»Hätte man sie retten können?«
»Die Älteste dürfte einige Minuten nach dem Zusammenstoß gestorben sein. Sie hat zwei gebrochene Rippen, und ihr Brustbein ist eingedrückt. Das dürften die Folgen einer Herzmassage sein.«
»Mein Vorgesetzter hat versucht, sie wiederzubeleben.«
»Selbst der beste Arzt hätte nichts für sie tun können. Die beiden Mädchen hielten sich an der Hand, bevor sie starben. Und zwar sehr fest. Die Haut weist noch die Abdrücke ihrer Finger auf. Ich will kein Urteil fällen, doch ich finde das kriminell, ein
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