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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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Passbildautomaten fiel nicht bis zum Boden herab, und in dem freien Raum erspähte sie ein Paar Schuhe. Sie zoomte die Lippen des einen jungen Mädchens heran und unterdrückte einen Schrei, als sie sah, dass sie sich bewegten. Es sprach mit jemandem.
    Blandine ließ den Film weiterlaufen. Nachdem die beiden Mädchen fortgegangen waren, wartete die Person in der Kabine zwei Minuten, ehe sie ihnen folgte. Die Lieutenante zitterte auf ihrem Stuhl vor Erregung. Der Mann, der eine schwarze Kappe tief in die Stirn gezogen hatte und dessen Gesicht nicht zu erkennen war, bewegte sich mit schnellen Schritten durch das Sichtfeld der Kamera.
    Blandine wechselte das Video. Die zweite Kamera war auf den Bahnsteig gerichtet. Die jungen Mädchen warteten allein auf der Bank. In der Masse der sich einfindenden Fahrgäste suchte die Lieutenante mit gespannter Aufmerksamkeit nach einer schwarzen Kappe. Sie erahnte sie, einen winzigen schwarzen Fleck in der Menschenmenge. Sie sah, wie sie sich den Opfern näherte. Im nächsten Moment stürzten die Körper auf die Gleise, und die U-Bahn überfuhr sie.
    Das Herz schlug Blandine bis zum Hals. In ihrem Kopf überschlugen sich Hypothesen. Sie versuchte sie mit dem merkwürdigen Eindruck zu konfrontieren, den sie am Morgen gehabt hatte, diesem Eindruck, dass die Leichen bewegt worden waren. Sie brauchte etwas Handfesteres als einen Mann, der mit den jungen Mädchen gesprochen hatte, etwas Aussagekräftigeres als eine Silhouette in der Menge. Und plötzlich wurde ihr klar, was von Anfang an nicht gestimmt hatte. Die Worte des Rechtsmediziners ergaben mit einem Mal einen Sinn: »Der rechte Arm wurde als Erstes getroffen.«
    Blandine sah auf den Rechner. In der Station kam die Metro von links.
    Man stürzt sich nicht rücklings auf Gleise.
    Es sei denn, man wird gestoßen.

11
Paris,
Institut für Rechtsmedizin,
Mordkommission
    Die feuchte Kälte des Seineufers kroch die Straßen hinauf und drang in den Turmbau der Universität Jussieu ein. Blandine wickelte den Schal etwas fester um ihren Hals. Sie ging über den Uferweg Richtung Arsenal und durchquerte den Jachthafen. Ihr Magen zog sich in leichten Krämpfen zusammen. Sie achtete nicht weiter darauf und eilte mit schnellen Schritten in das Gebäude an der Place Mazas 2, wo sich das Institut für Rechtsmedizin befand.
    Das, was sie gerade herausgefunden hatte, war wie ein Adrenalinstoß. Ihr Selbstvertrauen war förmlich in die Höhe geschossen, sie hatte also doch den richtigen Riecher gehabt. Beinahe wäre sie ins Büro von Jean-François Rilk hineingeschneit, um ihm seine Fehler und seine Bemerkungen über ihre Inkompetenz an den Kopf zu werfen. Letztendlich hatte aber ihre Vernunft gesiegt, und ihre gute Laune war nach und nach verschwunden.
    Im Endeffekt hatte sie nur Vermutungen und nichts Handfestes, was eine Wiederaufnahme des Falles gerechtfertigt hätte. Die Videobilder waren nicht deutlich genug, um die Aussagen von zehn Zeugen zu entkräften. Ein weiterer Schwachpunkt war die Tatsache, dass die Ermittlungen nur mit einer geringen Wahrscheinlichkeit zu einer Festnahme führen würden. Es gab nicht genügend Indizien und keinen brauchbaren Tatverdächtigen. Falls sie sich nicht irrte, hatte der Mörder reichlich Zeit gehabt, um zu verschwinden, bevor die Eisengitter heruntergelassen wurden. Der Staatsanwalt würde es niemals wagen, das Ansehen des Chefs der Mordkommission in Frage zu stellen, um auf einem ungelösten Fall sitzenzubleiben. Das würde sich negativ auf die Kriminalstatistik auswirken, und es wäre dem Ansehen der Behörde nicht zuträglich. Ganz abgesehen von der Gefahr, dass sich die Presse auf die Geschichte stürzte und mit dem gesichtslosen Mörder, der im Herzen von Paris Angst und Schrecken verbreitet, ihren Absatz ankurbelte. Wenn Blandine nicht Gefahr laufen wollte, kaltgestellt zu werden, weil sie sich über die Anweisungen von Jean-François Rilk hinweggesetzt hatte, musste sie unwiderlegbare Beweise auf den Tisch legen. Mit dieser Gewissheit stieß sie die Türen des Leichenschauhauses auf.
    Ein widerlicher Gestank hing in den Gängen des Instituts für Rechtsmedizin. Der Leichengeruch wurde von anionischen Tensiden überdeckt – Eau de Javel und anderen Reinigungsmitteln. Lieutenante Pothin kannte sich bestens aus in dem zwischen Wasser und Asphalt eingeklemmten Gebäude aus roten Backsteinen. Gleich nach ihrer Ankunft in Paris hatte sie sich in Abendkursen Grundkenntnisse in Rechtsmedizin

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