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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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U-Bahn-Zügen werden von hier aus Gegenmaßnahmen ergriffen ...«
    Der alte Mann zeigte Blandine die Anlage, während er gleichzeitig seine Mitarbeiter hinter ihren Bildschirmen überwachte. Er beugte sich vor, um einen Hustenanfall zu unterdrücken.
    »Entschuldigen Sie ... Aber Sie sind nicht gekommen, um unsere Spielsachen zu bewundern, wenn ich Sie richtig verstanden habe.«
    »Eigentlich nicht. Ich ermittle im Tod zweier junger Mädchen in der Metrostation Porte des Lilas. Ich bräuchte die Videoaufzeichnungen von der Station.«
    Der Fahrdienstleiter hustete erneut und deutete mit dem Kopf auf eine Tür.
    »Kommen Sie, hier entlang.«
    Sie folgte ihm in ein Labyrinth, das in gedämpftes Licht gehüllt war. Sie durchquerten die Empfangsräume. An den beigefarbenen Wänden reihten sich Schwarzweißfotos aus unterschiedlichen Phasen des U-Bahn-Baus aneinander. Eröffnung der ersten Linie zur Weltausstellung im Jahr 1900. Trockenlegung des Canal Saint-Martin. Opera. Place de l’Étoile. Châtelet. Im Lauf der Jahre hat sich die Anzahl der Stationen und Linien vervielfacht – sie haben sich unter der Oberfläche von Paris in ein feines Nervengespinst verzweigt.
    »Was Ihren beiden Opfern zugestoßen ist, nennt man ›Unfälle mit Personenschäden‹. Nach den amtlichen Zahlen ist jeder zweite Zwischenfall auf Personen zurückzuführen, die sich auf den Gleisen aufhalten. Am häufigsten sind das Selbstmörder. Bevor ich hier gelandet bin, habe ich auf mehreren Linien als Zugführer gearbeitet. Sechzehn Jahre lang war ich Zugführer auf den Linien 12 und 6, und ich bin stolz darauf, dass kein Mensch unter meinen Reifen zu Tode gekommen ist! Kein einziger. Aber dreimal hat nur wenig gefehlt. Zum Glück habe ich ein gutes Reaktionsvermögen, und die Bremsen haben funktioniert!«
    Blandine betrachtete die Bilder von der durchwühlten Stadt und wunderte sich über die funkelnde Sauberkeit der Metro auf den Fotos. Blitzende Kacheln, lächelnde Gesichter, das freudestrahlende Bürgertum. Eine aseptische, von Reklametafeln beherrschte Welt, aufgenommen aus den unterschiedlichsten Gesichtswinkeln. Auf den Schnappschüssen hatte es den Anschein, als wären die Eingeweide der Stadt gespült worden, als wären das lärmende Getöse und der ganze Dreck wie weggefegt. Der alte Mann fing wieder an zu husten und wischte sich den Mund mit einem Taschentuch ab.
    »Die RATP hat versucht, diese Verzweiflungsakte einzudämmen. Auf der Linie 4 wurden Gräben zur Suizidprävention ausgehoben, ohne überzeugende Erfolge. Bahnsteigtüren funktionieren etwas besser. Weniger Suizidversuche auf der Linie 14. Doch nicht alle haben den gewünschten Effekt! Die meisten tragen schwere Verletzungen davon, aber immerhin überleben sie, das ist das Entscheidende. Ihre beiden jungen Mädchen haben dieses Glück nicht gehabt. Manchmal hängt das von sehr wenig ab, nicht wahr?«
    Die Lieutenante nickte nur, sie hört ihm bloß mit halbem Ohr zu, weil sie die ganze Zeit daran denken musste, dass sie sich immer tiefer in eine missliche Lage hineinritt. Sie war aus eigenem Antrieb hier, ohne Dienstanweisung, während ihrer Arbeitszeit, und als Erklärung dafür hatte sie lediglich das sie nicht loslassende Bild zweier zerfetzter Körper und ihrer seltsamen Lage auf den Gleisen.
    Im Zwischengeschoss betraten sie einen weitläufigen, schmucklosen Raum. Ein Computerbildschirm, der neben einer Plastikpflanze stand, warf ein Gewirr von Schatten und Lichtpunkten auf die gelben Wände. Rings um den Schreibtisch aus weißem Resopal stapelte sich vom Boden bis an die Decke das chronologisch und geografisch geordnete Archiv mit den Aufzeichnungen der Überwachungskameras.
    »Da sind wir«, sagte der Fahrdienstleiter, »die Aufzeichnungen erfolgen kontinuierlich, und diejenigen von heute Morgen sind noch auf der Festplatte gespeichert. Sie finden dort die Videoaufzeichnungen der Linien 3a, 7a und 11.«
    Er klickte auf das Icon eines Ordners, und Hunderte von Filmdateien tauchten auf der Registerkarte auf.
    »Die Uhrzeiten und die Stationen sind hier unten angegeben«, erklärte er und deutete auf die Time-Codes und die Abkürzungen. »Im Gang steht eine Espressomaschine, falls Sie müde werden. Glauben Sie, dass Sie allein zurechtkommen?«
    »Ja, ich danke Ihnen.«
    Der Aufsichtführende schickte sich an, den Raum zu verlassen, doch als er Blandine vor dem Rechner sitzen sah, zögerte er kurz.
    »Ich möchte nicht misstrauisch erscheinen, aber da ist trotzdem

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