Die elfte Geißel
heimgezahlt. Ich wurde wegen dieser Sache nicht einmal vom Dienst suspendiert!«
Das Fallbeil sah ohne jegliche Rührung zu ihm auf.
»Erzähl uns doch, wie es kam, dass du deinen Sohn im Stich gelassen hast.«
Alain Broissard sprang auf, um dem jungen Polizisten an die Gurgel zu gehen.
»Du, Dreckskerl, ich mach dich alle!«
Das Lächeln von Letzterem stoppte ihn in seinem Schwung. Er bemerkte, dass er instinktiv seine Hand auf sein leeres Holster gelegt hatte und einen imaginären Griff umfasste. Der Kommissar war jäh zurückgewichen und hielt, eine Hand in seiner Jacke, eine ganz reale Pistole umklammert. Broissard kehrte um. Der Kommissar befahl ihm, sich hinzusetzen.
»Scher dich zum Teufel, du Drückeberger. Du bist kein richtiger Polizist. Hoffentlich macht deine Kleine nie das durch, was die Kinder erlebt haben, die ich gerettet habe. Ich wünsche es dir nicht, auch wenn es dir helfen würde zu verstehen, weshalb ich manche Sachen getan habe.«
Er schlug die Tür hinter sich zu – in dem Luftzug wirbelten die maschinengeschriebenen Blätter seiner Existenz auf.
Die erste Kugel riss das Ohr ab.
Die zweite durchschlug den Bauch.
Die Zielscheibe aus Karton flog in Stücke. Alain Broissard leerte ein ganzes Magazin, lud nach und feuerte abermals. Selbst die Seine hätte ihn nicht beruhigen können. Er hatte das Gefühl, von einer Strömung erfasst worden zu sein, die ihn auf gewaltige Brückenpfeiler zutrieb.
Wann würde er dagegenprallen?
An dem Schießstand drängten sich Polizisten, die an den Stehplätzen trainierten, schwarze Silhouetten zu durchlöchern. Hände und Pistolen in einer Flucht angeordnet, inmitten eines lauten Geballers. Broissard schoss in einem fort, bis er die Geste automatisch ausführte. Er konzentrierte sich, bis das Kartongesicht die Züge des Fallbeils annahm. Eine Kugel in den Bauch. Eine Verletzung, die zu einem langsamen, schmerzhaften Tod führte. Ein Mantelgeschoss in den Hals. Er schloss die Augen, und als er sie wieder aufmachte, zeichnete sich das Gesicht des Kommissars des Dezernats für interne Ermittlungen auf der kartonierten Oberfläche ab. Broissard zielte auf den Schritt, und zwei Hülsen sprangen aus der Patronenkammer. Er hob die Waffe leicht an und zielte über das Korn zwischen die beiden Brauen. Er stellte sich vor, wie die beiden internen Ermittler verzweifelt die starken Blutungen aus ihren Schusswunden zum Stillstand zu bringen versuchten.
Aber plötzlich tauchte Tatianas Gesicht an der Spitze des Laufs auf, ihre Schönheit unverändert, kaum von den Jahren beeinträchtigt. Er war wie gelähmt, unfähig, den Abzug zu betätigen. Er erinnerte sich noch sehr genau an sie – bis hin zu ihren sanften Lippen, bis zum kupfernen Schwarz ihrer Augen. Er konnte das Gedächtnisbild mühelos abrufen und folgte mit den Augen dem sanften Schwung ihrer Hüften, der fülligen Rundung ihrer Brüste, dem zarten Nacken und dem dunkleren Saum der Schambehaarung. Er kämpfte gegen das Chaos in seinen Gedanken, um das Bild ihrer ineinander geschmiegten Körper heraufzubeschwören. Aber andere Bilder überblendeten diese fragilen Schnappschüsse des Glücks.
Erzähl uns doch, wie es kam, dass du deinen Sohn im Stich gelassen hast.
Der alte Schmerz schnürte ihm das Herz zusammen.
Erzähl uns doch, wie es kam, dass du deinen Sohn im Stich gelassen hast .
Aber die Erinnerungen verblassten.
Ein letztes Mal betrachtete er Tatianas Gesicht und feuerte eine Kugel vom Kaliber 9 mm auf diese Phase seines Lebens.
10
Paris,
Leitstelle der Pariser Verkehrsbetriebe,
Mordkommission
In einem kreisrunden Raum mit elektronischen Schalttafeln an den Wänden verfolgten einige Männer in der Mitte aufmerksam die Fahrtstandanzeiger jeder Metrolinie. Vor der Rückwand des Saals übertrugen Bildschirme, die in Form eines riesigen Puzzles angeordnet waren, die Bilder der Überwachungskameras in allen Stationen. Hunderte von Unbekannten, die in regelmäßigen Abständen gefilmt wurden, bewegten sich schweigend fort, entsprechend den Bewegungen der Masse im Rhythmus der ankommenden und abfahrenden Züge.
»Die meisten Verkehrsleitzentralen wurden 1967 gegründet. Sie werden auch ›Gehirne‹ genannt. Ohne sie lässt sich der U-Bahn-Verkehr nicht steuern. Jeder Lichtpunkt entspricht einem Zug, der unterwegs ist. Die Fahrdienstleiter tauschen Informationen mit den Fahrern aus, die Telefonleitungen verlaufen entlang der Gleise. Bei Verspätungen oder Betriebsstörungen von
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