Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
Vom Netzwerk:
einer Schublade seines Schreibtischs verschwinden zu lassen.
    Er nahm ein Buch in die Hand und hielt es seinem Gesprächspartner hin.
    »Ich habe gerade Das Brevier des Chaos von Albert Caraco zu Ende gelesen. Eine sehr lehrreiche Lektüre! Ich leih es dir, wenn du willst. Du kannst es lesen, wenn wir uns dieselbe Zelle teilen.«
    »Das ist nicht witzig.«
    »Ich habe nie behauptet, dass es das ist. Wir könnten höchstens eine Ironie des Schicksals darin sehen.«
    »Eine Ironie des Schicksals?«
    »Wir enden wie diejenigen, die wir gejagt haben – das nennt man doch wohl eine Ironie des Schicksals, oder?«, sagte er, gegen das große Glasfenster klopfend.
    Bei diesen Worten versteifte sich Broissard. Er hatte die grausame Absurdität ihrer Lage noch nicht unter diesem Blickwinkel betrachtet. Ein dringendes Bedürfnis nach Musik durchlief ihn von Kopf bis Fuß. Um sich zu beruhigen, schloss er die Augen und klimperte mit den Fingern in der Luft imaginäre Noten auf einer imaginären Klaviatur. Eine Sonate von Clementi besänftigte die Abschweifungen seines Geistes. Aber nach und nach vergifteten Dissonanzen das Gerüst des Werkes, dessen komplexe polyphone Bewegung zu einer Kakophonie zerfiel.
    Am anderen Ende des Wohnzimmers konnte Maxime hinter den Glasscheiben die Stadt nicht mehr deutlich erkennen, er sah nur ein warmes Licht, das in der Nacht verblasste. Er hörte Broissard, der die Wohnung verließ, und er tat nichts, um ihn aufzuhalten. Er schwebte zwischen elektrischen, leuchtenden Farben. Er stellte sich vor, dass Paris von der dritten und vierten Geißel Ägyptens heimgesucht würde.
    Die ganze Stadt würde von Schmutz überquellen, die unterirdische Fäulnis, der Unrat, der Abfall – alles, was unsichtbar ist, würde sich in riesige Schwärme von Stechmücken verwandeln: Sie würden über die Straßen herfallen, und die Körper der Menschen würden von ihnen wimmeln, sie würden in die Ohren und die Nasenlöcher hineinkriechen. Schwarze Rauchsäulen würden von den Boulevards aufsteigen, und Fackeln würden den Himmel zerfetzen. Die Mücken würden unermüdlich brüten und die geschlüpften Larven in den Bäuchen schwirren und die Menschen in den Wahnsinn treiben. Die Lichterstadt würde unter den Wolken der Geißel Gottes dunkel, und es gäbe nur noch die kalte Pracht der Katastrophen.
    So ist die Hölle, keineswegs das Nichts, die Gegenwart.
    Maxime lächelte bei dem Gedanken, dass es keine spektakuläre Zukunft geben würde. Keinen kollektiven Zusammenbruch. Keinen apokalyptischen Wahn. Es gäbe kein Chaos, keine Stadt, die geräuschlos, durch die Druckwelle eines einschlagenden Himmelskörpers von der Erde hochgewuchtet würde. Keine versunkene Stadt, keine niedergemetzelte Stadt.
    Nichts weiter als eigenartige und zutiefst egoistische Armageddons.
    Kleine Plops des Gewissens wie platzende Luftbläschen.
    Plop.
    Genau das gleiche Geräusch, das sein Gewissen zum letzten Mal vor Jahren gemacht hatte.

14
Paris,
Wohnung von Lieutenant Léopold Apolline,
Sondereinheit
    Schlaflos, fern der Träume, schlenderte Léo durch die trostlosen Straßen von Paris. Er begegnete Nachtschwärmern, Obdachlosen, Nutten, Drogenabhängigen, Leuten, die völlig von der Rolle waren. Ein seltsames Mitgefühl packte ihn, als ob jeder von ihnen Teil eines Spiegelbildes war, das er nicht als sein eigenes erkennen wollte.
    Das Gebäude, in dem er wohnte, war eine ehemalige Textilfabrik, die zu einem Wohnhaus umgebaut worden war. Die schmutzig weiße, rissige Fassade ging auf einen kleinen brachliegenden Garten, eine winzige grüne Insel, umschlossen von efeubewachsenen hohen Backsteinmauern. Er setzte sich auf den Vorsprung des Mäuerchens und stampfte ungeachtet der winterlichen Temperaturen mit nackten Füßen im Gras. In diesem Garten suchte er die Ruhe, die ihm der Schlaf nie gebracht hatte, aber der Zauber wirkte nicht. Der Mond erschien, er hing wie ein Auge über den Wolken und glich dem verzerrten Kopf eines Ungeheuers, das sich anschickte, die Stadt zu verschlingen. Er warf zwei Gelatinekapseln Venlafaxin ein, bevor er sich dazu durchrang, in seine Wohnung zurückzukehren.
    »Léo, warte!«
    Er betrat gerade seine Zweizimmerwohnung, als ein etwa zehnjähriges Mädchen außer Atem auf dem Treppenabsatz eintraf. Es sprang ihm förmlich in die Arme und umklammerte seine Taille mit seinen Schenkeln.
    »Langsam ...«
    Léo setzte es behutsam auf dem Boden ab und strich die Haarsträhnen zurück, die Claras Gesicht

Weitere Kostenlose Bücher