Die elfte Geißel
die Kommissarin überwachen und glaubte, die Zeit von Kommissar Maxime Kolbe wäre abgelaufen. Um ihm dies klarzumachen, hatte sie ihm eine giftige Blume geschickt. Diese junge Frau und ihr Lächeln hatten ihn benommen gemacht, mehr noch, ihn geradezu gelähmt wie eine Curare-Spritze. Die Anmut ihrer Gesten, das goldbraune Funkeln, das er in ihren Augen erahnte – er durfte sich nicht davon verlocken lassen.
Die Kälte, die im Sektionssaal herrschte, kratzte ihn im Hals und ließ ihn husten. Der Rechtsmediziner und seine Assistentin, die sich über eine Leiche beugten, wandten sich um. Léopold erkannte die junge Frau, die ihn anstarrte und die seine Anwesenheit offensichtlich irritierte. Eine gewisse Blandine Pothin, die bei der Mordkommission arbeitete und der er auf den Fluren des Quai des Orfèvres 36 schon über den Weg gelaufen war.
Die beiden Männer warteten, bis sie sich verabschiedet hatte, ehe sie sich herzlich die Hand reichten.
»Guten Abend, Herr Professor. Störe ich Sie?«
»Ein Freund stört nie.«
Während er an dem Sektionstisch vorbeiging, über den sich Blandine gebeugt hatte, durchzuckte es ihn, als sein Blick auf das Gesicht eines der jungen Mädchen fiel. Die wie durch ein Wunder unversehrt gebliebenen kindlichen Züge strahlten etwas Vertrautes aus. Verdutzt hörte er sich mit lauter Stimme sagen:
»Kennt man ihre Identität?«
»Nein, es gibt nicht einmal die geringste Spur. Genau das bereitet Lieutenante Pothin Kopfzerbrechen.«
Stéphane Firsh wandte sich unvermittelt einem anderen Thema zu.
»Darf ich Ihnen eine kleine Übung vorschlagen? Heute Abend gebe ich Privatunterricht. Wir wollen mal sehen, ob Ihr Gehirn schon eingerostet ist.«
Er stellte ihm gern knifflige Fragen über ungewöhnliche Todesfälle, die Léopold und er aufzuklären versuchten. Der Rechtsmediziner trug die medizinischen Fakten vor, und der Lieutenant tat so, als würde er versuchen, aus den Erkenntnissen auf die Todesursache zu schließen. Eine Art Kreuzworträtsel um eine Leiche.
Der Arzt führte Léo zur Leiche eines jungen Mannes maghrebinischer Abstammung. Er nahm einen Holzstock in die Hand und deutete auf den Toten wie auf eine Aufgabe an der Tafel.
»Das ist ein interessanter Fall. Er wurde uns heute Morgen geliefert.«
Léopold betrachtete den Körper des jungen Nordafrikaners. Bläuliche, ins Schwarze spielende Prellungen überzogen die Brustmuskulatur. Weinrote Striemen auf Bauch, Oberschenkel und Unterarmen. Offener Nasenbeinbruch. Der Professor folgte Léos Blick und seinen Schlussfolgerungen.
»Das ist nur der sichtbare Teil. Zahlreiche Bänderrisse. Epidurales Hämatom. Vermutlich die Todesursache. Und anderes mehr. Aber fällt Ihnen nichts auf?«
Léo neigte sich näher über die Verletzungen des jungen Mannes. Am meisten erstaunten ihn die Länge und die Form der Striemen auf dem Bauch. Wortlos vermaß er die Hautmale. Ungefähr zweiundzwanzig Zentimeter. Einige der Male hatten die Form eines großen L. Er hatte das bereits irgendwo gesehen. Léopolds Gesichtszüge wurden plötzlich hart.
»Schlagstock vom Typ Tonfa, Standardausrüstung der Polizei. Das waren Polizisten, oder? Weiß man, wer ihn gelyncht hat?«
»Ihre Kollegen sind eher diskret, wenn es darum geht, einen Übergriff zu kaschieren. Doch es kursieren Gerüchte, wonach sich der Vorfall nach einer recht unsanften Razzia der ›Cowboys‹ des Drogendezernats in Aulnay-sous-Bois ereignet haben soll.«
Léopold erinnerte sich an Bruchstücke von Gesprächen, die er am Morgen in der Cafeteria aufgeschnappt hatte. Eine Brigade hatte gewalttätige Ausschreitungen niedergeschlagen. Aber selbst im Eifer des Gefechts, inmitten von Steinwürfen und Beschimpfungen, konnte nichts eine solche Brutalität rechtfertigen.
»Der Junge hat bei der Durchsuchung einen Polizisten angespuckt. Das Ergebnis liegt vor uns.«
Der Rechtsmediziner legte den Finger auf den blau angelaufenen Wangenknochen.
»Das ist die Spur des Kopfbeins, was Sie da sehen. Dieser da ...«, erklärte er, indem er eine Faust machte und mit der Spitze des Mittelfingers an den knochigen Höcker tippte. »Ein Faustschlag, der die Lunte ans Pulverfass legte, vermute ich. Nach Aussage der Polizisten, die ihn hergebracht haben, ist der Junge in die Küche geflüchtet und hat einen Beamten mit einem Messer am Oberschenkel verletzt. Dabei hat er sich selbst geschnitten.«
Er zeigte auf einen deutlich sichtbaren Schnitt am Daumen der Leiche.
»Da muss es aus dem Ruder
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