Die elfte Geißel
verhüllten. Wie gewöhnlich überholte sie ihn in der Wohnung und strebte geradewegs zum Kühlschrank. Sie goss sich ein großes Glas Milch ein und ließ sich auf die Couch fallen.
»Wieso bist du um diese Uhrzeit noch wach, Clara-Clara?«
Er nannte sie bei diesem Spitznamen, seitdem sie zusammen einen Spaziergang in den Tuilerien im Schatten des Werkes von Serra gemacht hatten.
»Ich habe mich gelangweilt. Ich bin allein, die Babysitterin ist zwar da, doch sie schläft seit einer Stunde.«
Mit einem Anflug von Tadel fügte sie hinzu:
»Wir beide sehen uns nicht mehr oft.«
»Ich weiß, aber meine Arbeit ...«
»Fehle ich dir nicht?«, unterbrach sie ihn.
Léo lächelte. Er kannte seine kleine Nachbarin, seit sie sieben Jahre alt war. Ihre Mutter war ungefähr so alt wie er, und nach ihrer Scheidung hatte sie sich mit ihrer Tochter einen Stock tiefer eingemietet. Clara hatte aus Neugierde an seine Tür geklopft. Der Polizist hatte sie sofort in sein Herz geschlossen. Er mochte ihre Frische, ihre Fähigkeit, seine Laune schlagartig zu heben, und die Unbekümmertheit, die sie in die Wohnung brachte.
»Ich habe in der Schule ein Referat über ihn gehalten.«
Sie zeigte auf die Reproduktion eines Gemäldes von Zurbarán, die eine Wand des Esszimmers schmückte. Der heilige Sérapion, Märtyrer des Mercedarier-Ordens, im weißen Habit, mit gebundenen Händen aufgehängt, schien einen schmerzgequälten Schlaf zu schlafen, da er nicht mehr die Kraft hatte, für sein Seelenheil zu beten.
»Hast du gewusst, dass die Mer... Merca...«
»Mercedarier.«
»... dass sie zusätzlich zu den traditionellen Gelübden ein ›Gelübde der Erlösung oder des Blutes‹ ablegten? Das bedeutet, dass sie bereit waren, für den Freikauf gefangener Christen ihr Leben zu opfern. Hast du deshalb ein Bild von ihm?«
Ohne ihm die Zeit zu lassen, zu antworten, stand sie mit einem Satz von der Couch auf und tat so, als würde sie die Reproduktion des Werkes betrachten, doch wie immer richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf die Fotos von Kindern, die wie ein Fresko unter dem Bild festgepinnt waren. Sie strich mit dem Finger über die rosigen Wangen und das gefrorene Lächeln der Kinder, die Léopold gerettet hatte.
Er hatte die Fotos mit Firnis überzogen, um sie auf diese Weise zu konservieren, aber Tag für Tag blichen die Farben etwas mehr aus, sodass die Gesichter unkenntlich zu werden drohten. Er kämpfte gegen das unvermeidliche Verschwinden und die Angst, dass nur noch Erinnerungen und Phantome übrig blieben.
Clara blieb vor dem Foto stehen, auf dem das Opfer im ersten Fall von Léo abgebildet war. Das Papier war verblichen, die Ecken waren zerschlissen, und gelbliche Farbflecken vermischten sich mit den goldenen Haaren des kleinen Mädchens. Sie verzog das Gesicht und fragte:
»Wie heißt es noch?«
Sie dürfte ihm diese Frage etwa zwanzig Mal gestellt haben, seit sie sich kannten. Nie fragte sie nach den Namen der anderen Kinder.
»Alice«, sagte er leise.
Clara blickte Léo fest aus ihren blauen Augen an. Das Mädchen sah ihn entschlossen an, aber sein Blick verschleierte sich.
»Weshalb hast du sie lieber als mich?«
»Das stimmt doch gar nicht! Wieso sagst du das?«
»Du hast ihr Foto ... von mir hast du keins. Und wie du sie ansiehst. Ich bin dir nicht hübsch genug! Niemand findet mich hübsch.«
Clara kauerte sich auf dem Sofa zusammen und legte den Kopf in die Schultergrube. Er streichelte ihr lange das Haar.
»Du bist sehr schön. Und du weißt ganz genau, dass ich niemals lüge«, flüsterte er.
Die Zeit verging, skandiert von den Uhrzeigern. Er genoss den Augenblick sehr bewusst. Der Stress, die Verkrampfungen des Alltags verließen seinen Körper, aufgelöst von der Wärme und dem Vanilleduft des Mädchens. Aber ein schleichender Schmerz schnürte ihm fast die Kehle zu. Nie würde er Vater sein. Diese Feststellung traf ihn immer wieder mit der gleichen Heftigkeit. Dabei wünschte er es sich so sehr. Es war ein starker Wunsch, der durch die Fakten seines gesundheitlichen Zustandes unentwegt gebrochen wurde. Und die ganze Liebe, die er schenken konnte, blieb im Gefängnis seiner Einsamkeit eingesperrt. Clara war die Tochter, die er nie haben würde. Genau wie Alice.
Sein Blick wanderte zu den Fotos an der Wand. In Gedanken versetzte er sich in die Welt der Kinder, beobachtete, wie sie im Zeitraffer heranwuchsen und Erwachsene wurden. Er malte sich ihr Leben aus, und einen kurzen Moment lang gefiel ihm
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