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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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die Vorstellung, dass sie durch ein unsichtbares Band verbunden waren. Er und sie. Sie und er. Nachkommen, die nichts von ihm wussten und nie wissen würden.
    Die Verschmelzung von Gegenwart und Vergangenheit machte ihm Angst, und er riss sich mit Gewalt aus seinen Tagträumereien. Claras Gesicht sank noch etwas tiefer auf ihre Schulter.
    »Zeit, schlafen zu gehen«, flüsterte er ihr ins Ohr.
    »Erzählst du mir vorher eine Geschichte?«
    »Welche denn, Clara-Clara?«
    »Eine, die Angst macht.«
    Léopold dämpfte das Licht, und sie wickelten sich in eine Decke ein. In seinen Armen liegend, hielt Clara den Atem an. Er sprach leiser, um seiner Stimme den Akzent eines Märchenerzählers zu geben, und begann, ohne aufzuhören, ihr Haar zu streicheln:
    »Das Ganze geschah vor drei Jahren. Ein kleiner Junge war verschwunden ...«
    Die Worte ergossen sich in den mit Filz ausgelegten Raum. Léo tauchte in seine Erinnerungen ein, um daraus den Stoff für seine Geschichte zu schöpfen. Er übertrug die hässliche Wirklichkeit des Verbrechens in eine andere Welt, die von Menschenfressern, heldenhaften Polizisten und gefährdeten Kindern bevölkert war. Eine Parabel ohne Schlusspunkt, in der sich unterschwellig Kinderängste mit seinen eigenen Ängsten verschränkten.
    Clara ließ sich wiegen, an ihn geschmiegt, und ein Gruseln überkam sie, wenn die Schatten der Geschichte länger wurden. Léos Stimme wurde immer leiser, fast zu einem Flüstern, und sie verloren sich in einer Zeitblase, einem wohltuenden Kokon. Im Halbschlaf drehte sich Clara um und wisperte:
    »Beschützt du mich vor den Menschenfressern?«
    »Aber sicher.«

15
Paris,
Wohnung von Lieutenante Blandine Pothin,
Mordkommission
    Die lauwarme Temperatur in der Wohnung fing gerade an, die Verkrampfung in ihrer Bauchmuskulatur zu lösen. Durch die Fenster betrachtete Blandine die ersten Weihnachtsdekorationen, die an der Place Beaubourg funkelten. Die durchscheinende Treppe des Museums erinnerte an einen Riesenwurm, eine gigantische Seidenraupe, die mitten in Paris aufgestellt war.
    Auf dem Teppichboden nahm sie den Lotossitz ein und begann, tief einzuatmen, während sie sich nach vorn beugte, bis ihre Stirn den Boden berührte. Sie wiederholte die Übung, streckte sich wieder, aber mit den Gedanken war sie irgendwo anders. Sie bemühte sich, die Vorstellungen, die sie quälten, loszuwerden. Vergeblich.
    Über den Bildschirm des Fernsehers vor ihr flimmerten die Ein-Uhr-Nachrichten. Die gewalttätigen Ausschreitungen waren die Meldung Nummer eins. Geplünderte Geschäfte. Mit Graffiti verschmierte Polizeidienststellen. Knüppelschläge. Gebrochene Schienbeine. Blut auf der Straße. Pfützen wie Farbkreise. Rot, blau, violett, schwarz.
    Das Bild eines brennenden Autos fesselte sie einige Sekunden lang. Starr betrachtete sie die Rauchspiralen des Feuers, bis das Bild verschwand. Sie erkannte voll und ganz, in was sie sich da hineinritt.
    Ihr Handeln war absolut illegal. Erschwerend kam hinzu, dass die Ermittlungen offiziell abgeschlossen waren. Die Zeit arbeitete gegen sie. Wenn es ihr nicht gelang, schnellstmöglich stichhaltige Ermittlungsansätze, belastbares Beweismaterial vorzulegen, würde sie diese Sache teuer zu stehen kommen.
    Und wenn es ihr gelingen würde?
    Sie wog das Für und Wider ab. Bei nüchterner Betrachtung konnte sie nur scheitern. Aber die Vorstellung, ganz allein auf der scharfen Klinge eines Rasiermessers zu balancieren, elektrisierte sie. Dieses Spiel mit totalem Einsatz weckte in ihr Lebensgeister, die sie längst erloschen glaubte. Dieser Fall bot die Chance, dass sie endlich einen Karrieresprung machen, vielleicht sogar auf der Ehrentafel stehen würde.
    Mehr noch als den beiden Mädchen war sie es sich selbst schuldig.
    Paul Garcia kam aus dem Bad, das Handtuch um die Hüfte gebunden, und setzte sich neben sie aufs Bett.
    »Was ist los?«
    »Ich werde keinen neuen Fall übernehmen. Ich will, dass du mir beim Bär den Rücken freihältst.«
    »Und aus welchem Grund?«
    »Ich arbeite an einem anderen Fall.«
    »Könntest du dich etwas genauer ausdrücken?«
    Sie seufzte, wollte der Frage ausweichen. Aber Paul ließ sich nicht so einfach abwimmeln und starrte sie erwartungsvoll an.
    »Die beiden Mädchen unter der U-Bahn ...«
    »Der Selbstmord?«
    »Genau darum geht es, vielleicht ist es komplizierter, als es den Anschein hat.«
    »Spinnst du? Das war ein Suizid, eine Verzweiflungstat, nenn es, wie du willst.«
    »Ein Mord«, antwortete

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