Die elfte Geißel
und Alain gehören zu den vorrangigen Fällen.«
»Moment mal, wenn ich Sie richtig verstehe, wollen die hohen Tiere in der Präfektur ein Exempel statuieren. Ist das so?«
»Nach dem, was ich gehört habe, soll eher das Innenministerium Druck machen. Sie wollen, dass die Vorladung Ihrer Vorgesetzten ein politisches Zeichen setzt. Null-Toleranz für alle, die Polizisten sitzen im gleichen Boot wie die kleinen Halbstarken.«
»Falls sie glauben, sie könnten den Schlamassel da draußen dadurch beseitigen, dass sie zwei Polizisten an den Pranger stellen, ist die Lage noch verzweifelter, als ich dachte.«
»Du weißt, dass ich Alain mag ... falls du ihn siehst, teil ihm das doch bitte mit. Ich kenne einen Anwalt, der bereit wäre, ihm zu helfen.«
Zum ersten Mal in sechs Jahren duzte ihn der Rechtsmediziner. Als Léopold schwieg, fühlte sich Stéphane Firsh gezwungen, hinzuzufügen:
»Mit zunehmendem Alter wird einem klar, dass Freundschaft und Loyalität von unschätzbarem Wert sind.«
13
Paris,
Wohnung von Kommissar Maxime Kolbe,
Sondereinheit
An das riesige Glasfenster seiner Wohnung im 29. Stock des Tour Helsinki gelehnt, betrachtete Maxime Kolbe die Stadt. In der rabenschwarzen Nacht glich die Stadt einem pointillistischen Teppich aus winzigen Lichtpunkten, durch die harte, dunkle Linien verliefen.
Syphilitiker, Verrückte, Könige, Hampelmänner, Bauchredner,
eure Seelen und eure Körper, eure Gifte und eure Lumpen –
was könnten sie der Hure Paris schon bedeuten?
Sie wird euch verkommene Subjekte einfach abschütteln!
Er sagte sich die Verse Rimbauds auf, die sein Vater so oft rezitiert hatte. Seit der Bohème hatte sich nur wenig geändert. Syphilis im Tausch gegen verseuchtes Blut. Spinner und Geisteskranke noch immer auf den Straßen. Nutten auf den Gehsteigen. Luxusprostituierte in Satin. Tunten und Transvestiten, die es im Gebüsch der Parks trieben. Die »grüne Fee« – Haschisch –, von Crystal-Meth abgelöst. Und die Hure Paris, die sich immer wieder schüttelte, im Inneren zerfressen von unsichtbaren Krankheiten.
Maxime Kolbe schwenkte den Portwein in seinem Glas.
»Ich hätte nicht gedacht, dass meine Karriere auf diese Weise enden würde«, murmelte er.
»Das hätte ich bei meiner auch nicht gedacht«, antwortete Broissard mit einer durch den Alkohol heiser gewordenen Stimme.
Er war zu Maxime gekommen, weil er hoffte, dass sie diese Bewährungsprobe zusammen leichter bestehen könnten. Aber die Herzlichkeit, die sie normalerweise verband, hatte sich aufgelöst, verflüchtigt. Was blieb, war die Einsamkeit, in der jeder mit sich allein war und die so tief war, dass sie nicht geteilt werden konnte. Er schenkte sich noch einmal ein. Das Verhör, dem man ihn am Morgen unterzogen hatte, hatte einen bitteren Geschmack in seinem Mund zurückgelassen, den der Wodka nicht milderte. Er konnte tun, was er wollte – er musste immer wieder an den Satz denken, der wie eine Ohrfeige für ihn war:
Erzähl uns doch, wie es kam, dass du deinen Sohn im Stich gelassen hast.
Ein kurzes kristallenes Geräusch. Wie benommen starrte er auf die Glasscherben in seiner Hand, den Whisky und das Blut, die den niedrigen Couchtisch aus Holz befleckten, auf dem Berichte, Fotos und Ermittlungsakten herumlagen. Vorsichtig entfernte er die spitzen Scherben, die sich in seinen Handteller gebohrt hatten, und es erstaunte ihn nicht, dass eine tiefe Schnittwunde seine Glückslinie durchtrennte. Er zog ein Taschentuch heraus und wischte die kleine Lache auf, die das Palisanderholz und die verstreut herumliegenden Dokumente besudelte. Sein Blick blieb an einer Reihe von Fotos hängen, die halb aus einem Umschlag herausragten. Verdutzt legte er sie nebeneinander – er kannte den Mann, der darauf abgebildet war.
Étienne Caillois, ein Pädophiler, den Maxime im Jahr 2001 verhaftet hatte, erschien im Sprechzimmer des Gefängnisses, in dem er saß, offenbar in eine heftige Auseinandersetzung mit einer etwa zwanzigjährigen jungen Frau verwickelt. Die grauschwarzen Fotos schienen von Überwachungskameras gemacht worden zu sein. Nur das Haar der jungen Frau war von einem makellosen Weiß.
»Gräbst du alte Fälle aus?«, fragte Broissard, die Fotos schwenkend, und schenkte sich ein weiteres Mal ein.
»Mein Anwalt hat mich gebeten, meine Dienstzeitbescheinigungen auf den neuesten Stand zu bringen. Das könnte zu meinen Gunsten sprechen«, antwortete Maxime und griff nach den Fotos in Alains Händen, um sie in
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